Raceday. Die Sonne beginnt sich in den Fenstern des Skyline-Centers und des Messeturms zu spiegeln, deren Silhouetten sich vor einem strahlend blauen Himmel in genau diese Richtung recken. Dieses Bild bietet sich Claudia und mir vom Bett aus, auf dem wir auch eine Stunde vor dem Start noch liegen können, während draußen die Läufer bereits Richtung Startbereich an den Messehallen pilgern. Ich beginne hier nun endlich, ein wenig nervös zu werden. Meine relative Ruhe gemessen am schnellsten Marathon seit 2014, den ich hier vorhabe, ist mir fast unheimlich. Wir ziehen uns langsam an, frühstücken unser Pre-Race-Frühstück – Milchbrötchen mit Frischkäse – auf dem Zimmer und treffen uns dann mit den anderen in der Lobby. Erst eine halbe Stunde vor dem Start gehen wir die 500 Meter hinüber. Vor dem Start herrscht das übliche Gewusel, schnell machen wir noch ein Gruppenfoto.
Dann verabschiede ich mich in den Startblock 2. Die Anspannung steigt. Ich will endlich los, aber knapp 15 Minuten muss ich noch warten. Im Block 2 wird es nach vorne voller, ich gehe am seitlichen Bauzaungitter entlang bis zum Absperrseil und sehe Rainer mit seiner Tatjana im ersten Block. Schnell schlüpfe ich durch. Wir begrüßen uns, wünschen alles Gute und hier habe ich dann noch Zeit und Platz für ein paar Dehnübungen und Skippings. Echtes Warmlaufen mache ich vor einem Marathon nicht. Meine größte Sorge gilt den 3:15er Pacemakern. Jens Meyer, den ich flüchtig kenne, hatte ich am Vortag auf der Messe gesehen und kurz begrüßt. Von ihm weiß ich, dass er gute Pace machen und einhalten kann. Ich möchte mich heute weitgehend mal auf die Ballonträger verlassen, mein Armband für den Fall der Fälle mit allen Kilometerzeiten habe ich dennoch dabei. GPS ist in Frankfurt immer etwas schwierig, weil die Hochhäuser immer wieder den Empfang behindern und dann seltsame Zeiten anzeigen. Ich möchte darauf achten, dass die Pace relativ zeitgleich mit mir über die Startmatte laufen, damit ich mich immer an ihnen orientieren kann.
Schon läuft der Countdown und der Startschuss schickt über 15.000 Läufer auf die berühmten 42,195 Kilometer. Ich bleibe an der Seite des Feldes stehen und warte. Die Ballons vor mir waren die 2:59er Pacer, also müssten die nächsten Jens und seine Crew sein. Für 3:15 sind sie zu dritt, denn einer war wohl leicht angeschlagen an den Start gegangen. Endlich haben sie mich erreicht und ich darf loslaufen. Es geht die Friedrich-Ebert-Anlage hinunter bis zur Mainzer Landstraße, am Volksbank-Tower geht es dann durch das Bankenviertel zur ersten Runde durch die City. Das Tempo kommt mir langsam vor, es ist auch ziemlich voll, selbst in dieser durchaus ambitionierten Zeit. Immer wieder wird gekreutz, überholt und aufgrund der Straßenbahnschienen muss man aufpassen, den Lauf nicht hier frühzeitig beenden zu müssen. Ich unterhalte mich kurz mit dem zweiten Pacer. Auch der ist bemüht, das Tempo zu kontrollieren, aber zunächst wird es wieder eng und wuselig auf der Strecke. 2 Kilometer, 5 Sekunden hinterher. Allerdings laufen die hier auch eine 4:35, denn die Zielzeit liegt bei 3:14 und nicht bei 3:14:59. Aber wie gesagt, die Hochhäuser um uns verfälschen.
Nach 3 Kilometern sind wir bereits wieder zum ersten Mal auf dem Weg hinaus über die Bockenheimer Warte zurück in die City. Der Pacer neben mir teilt mit, dass wir „10 Sekunden drüber“ wären. Das ist mir egal, denn der Weg ist noch lang. Dennoch wird nun wieder beschleunigt. Es ist recht unruhig, obwohl man hier gut laufen kann. Ich unterhalte mich kurz mit Fabian, einem Läufer, der sich auch an unsere Gruppe gehängt hat. Wir sprechen kurz über unsere Ziele und sind schnell vor den Pacern. Ich erkläre die nächsten Streckenabschnitte auf seine Nachfrage, die Chemie scheint zu stimmen. Schon ist die 5-Kilometer-Matte erreicht. 23:15 Min., etwas zu langsam, aber zu korrigieren. 10 Sekunden sind nichts in 37 Kilometern. Die holst Du im Endspurt automatisch. Jetzt halt nur nicht langsamer werden und Zeit verlieren.
Der erste Wasserstand kurz nach den 5 Kilometern erscheint. Ich will im Gehen einen der aufgestellten Becher greifen, muss mich dabei etwas bücken und rutsche weg. Ich rolle mich über die Schulter ab, stehe wieder und laufe flüssig weiter. Glück gehabt. Der Boden war klatschnass, so guten Halt haben meine „ON Cloudsurfer 2“ da nicht mehr. Mein Knie blutet, die rechte Hüfte brennt. Sonst scheint aber alles in Ordnung zu sein. „Und das mit weißen Kompressionstubes“, denke ich und sehe diesen schon blutüberströmt. So schlimm wird es dann doch nicht. Pacer Jens hatte sofort gefragt, ob alles in Ordnung sei. Man achtet zumindest aufeinander. Während ich mich mit Fabian, so heißt mein Begleiter aus der Gruppe, etwas vorarbeite und erzähle, warum ich diesen Kurs hier so toll finde, sind wir bereits wieder in der City und drehen die zweite, etwas längere Runde um Kaiserplatz, Hauptwache und Alte Oper. Die Stimmung ist phantastisch, Trommler, Zuschauer, die Sonne. Wir haben beide beste Laune und müssen gefühlt bremsen. Irgendwie erinnert mich dies an 2012, als ich hier PB gelaufen war.
Jetzt geht wieder heraus aus der City, hoch zur Universität und dann wieder hinunter über den Main. Wir drosseln immer noch Tempo, aber bisher fällt mir die Pace sehr leicht. Fabian will weiter nach vorne. Ich halte ihn ab, denn zwischen Km 9 und 10 geht es hinauf zur Universität. Er scheint dankbar für den Hinweis, hat noch nicht viele Marathonläufe hinter sich und sagt, dass er froh sein, von einem Streckenkenner Hinweise zu bekommen. Den leichten Anstieg (wir reden über insgesamt 27 Meter Höhenunterschied im ganzen Marathon und 40 Höhenmetern!) haben wir gut bewältigt, nach dem VP an der Ecke geht es schon wieder hinab. Die Pacer sind vielleicht 30, 40 Meter hinter uns, unsere Pace hat sich gut eingependelt. Wir sind noch leicht zu schnell, aber das ist zu regulieren. Meine Beine fühlen sich super an, langsam verfestigt sich der erste Eindruck, dass es gelingen könnte. Vergessen ist mein Sturz, er scheint außer den kleinen Schürfwunden zumindest keine orthopädischen Störungen verursacht zu haben. Alles ist recht kurzweilig, immer wieder stehen hier Zuschauer. Die Pacer sind auch wieder da, haben bergauf wohl etwas mehr Gas gegeben als wir.
Das zweite Mal geht es am Eschenheimer Turm vorbei, dann endgültig Richtung Alte Brücke. „Nimm ein wenig Tempo raus, wenn keiner direkt vor uns ist, gibt es schönere Fotos auf der Brücke“, sage ich zu Fabian. So sollte es dann auch kommen. Im Sonnenlicht sieht die Skyline des Bankenviertels mit dem altehrwürdigen Dom davor schon beeindruckend aus. Schön, dass wir diese Aussicht noch genießen können. Auch am Sachsenhausener Ufer ist die Stimmung super. Das Wetter begünstigt natürlich das Zuschaueraufkommen. Es wird lautstark angefeuert. Ein wenig schmunzeln muss ich, als der Moderator hier bei Kilometer 14 mit den 3:14-Pacern kurz hinter uns „das Hauptfeld“ ankündigt. Eine Pace von 4:37 ist mit Sicherheit nicht der Durchschnitt der Finisher. Der liegt etwa bei 4 Stunden. Egal, wir wissen, was wir gerade dafür tun müssen, und wir tun es noch mit Freude. Fabian stellt fest, dass wir schon ein Drittel erledigt haben. „Nächstes Ziel Halbmarathon!“ rufe ich aus.
Zwischen Km 14 und 19 wird es etwas ruhiger. Wir laufen konstant weiter, vorbei an der alten Rennbahn, wo demnächst das DFB-Trainingszentrum entstehen soll. In Niederrad war eigentlich ordentliche Stimmung, sonst ist es hier eher zurückhaltend. Man muss ein wenig auf die Straßenbahnschienen aufpassen, die hier häufig den Kurs kreuzen. Wir sind wieder ein Stück bei den Pacern. Inzwischen sind wir unserer Zeit knapp eine Minute voraus. Mehr darf es nicht werden, das ist mir klar. Hinter Niederrad kommt ein Gewerbegebiet an der Kläranlage, deren Nähe man durchaus in der Nase merken kann. Wäre hier sonst nichts los, hat der Veranstalter aus diesem Grunde den zweiten Staffelwechselpunkt hier eingerichtet. Durch die wartenden Ablösungen und deren Anhang ist dann doch Stimmung an einem sonst leeren Streckenabschnitt. Auch hier sind wir schnell durch und biegen ab in die Siedlung Frankenfurt. Hier gibt es ein Straßenfest mit guter Stimmung, es folgt die Gerade entlang des Mainufers mit der Halbmarathon-Matte. 1:36:07 netto, das ist 4 Sekunden schneller als bei meinem Test-Halbmarathon Rhein-City-Run vor 14 Tagen. Würde ich dieses Tempo halten können? Nein, wir mussten langsamer werden. Ich spreche mit Fabian kurz darüber, er sieht das genauso. Mein Blick zur Uhr wird häufiger, zumal im nächsten Ortsdurchlauf in Schwanheim wieder gute Stimmung herrschen wird. Blaskapellen und viel Außengastronomie in der relativ engen Durchgangsstraße verleiten zum schneller Laufen. Dann hinauf auf die Schwanheimer Brücke, das linke Mainufer ist damit bereits Geschichte. Die Steigung ist sehr moderat, wie ich es zuvor angekündigt hatte. Wir laufen langsamer, das heiß langsam im richtigen Tempo von 4:35 pro Kilometer. Auf der Brücke wieder die traditionelle Band, dann führt die Strecke schon wieder hinab Richtung Höchst. Fabian wird schneller. „Lauf Dir nicht die Muskulatur sauer!“ mahne ich. Hier hat man über 24 Kilometer Tempo in den Beinen, bergab werden dann plötzlich andere Muskelgruppen beansprucht, die schnell mal „zu“ machen können. Meinen Begleiter Dominik hatte es im letzen Jahr ungefähr hier „erwischt“. Fabian hört auf mich und bleibt bei mir.
Ein neues Kilometer-Schild taucht vor uns auf. „Hier beginnt der Marathon!“ erwähne ich beiläufig. „Wieso hier?“ fragt Fabian zurück. „Warte es ab, es wird bald härter. Aber wir sind gut unterwegs und haben einen Puffer“. „Dann sollten wir den mal nutzen“, antwortet er. Es ist für mich sehr hilfreich, hier einen Blick für einen Mitläufer zu haben und Fabian spiegelt mir zurück, dass er auch sehr froh ist, mich als erfahrenen Marathoni und Kenner der Strecke an seiner Seite zu haben. Denn gegenseitig aufeinander zu achten, lenkt von aufkommenden eigenen Problemen ab. Die würden kommen, das war mir hier klar. Aber ich war noch voll im Plan vom Rhein-City-Run, nach dem ich sagte, dass ich dieses Tempo bis 30 gut würde laufen können. In Hoechst, der einstigen Geburtsstätte dieses Marathons und ehemaliger Sitz des gleichnamigen Pharma-Riesens, wartet der letzte knackige Anstieg auf uns. Den bewältigen wir ruhig, aber er bringt mich schon ein wenig außer Atem. Das erste Mal bin ich vor dem unauffälligen Schloss Hoechst wirklich angestrengt. Aber schon geht es wieder hinunter. Fabian scheint mir langsam lockerer zu laufen. „Warte bis zur Mainzer Landstraße in 2 Kilometern, dann kannst Du Gas geben“. Dankend lehnt er ab. Fast hätte ich mein drittes Gel vergessen. Ich trinke immer 4 Dextro-Flüssig-Gels bei einem schnellen Marathon, relativ pünktlich alle 9 Kilometer. Ansonsten nehme ich nur Wasser zu mir, ehe ab Kilometer 32 auch mal ein Schluck Cola dabei sein darf. Essen tue ich unterwegs in der Regel nichts.
Die Pacer sind wieder hinter uns, aber wie wir am Staffelwechsel in Nied vom Moderator hören nicht allzu weit, denn kaum sind wir durch die Gasse der zahlreichen Zuschauer an ihm vorbei, sagt er die „3:14er“ an. Schon kommt die kurze S-Bahn-Unterführung, dahinter steht Fabians Frau. Er begrüßt sie kurz im Vorbeigehen, sagt, dass er nichts brauche und alles gut sei und läuft an mir vorbei. „Ruhig, ruhig“, mahne ich nochmal, denn er lässt sich von der tollen Stimmung hier in Nied mitreißen. Das ist hier gefährlich, denn schon in einem Kilometer beginnt die endlose, 5 Kilometer lange Gerade der Mainzer Landstraße und die „gefährliche“ Distanz von 30 km bei jedem Marathon. Da, wo die letzten Kohlenhydrate verbrannt sind und die energieintensivere Fettverbrennung einsetzt. Der „Mann mit dem Hammer“ lauert hier, und nicht erst an der Statue vor der Messe, wo der „Hammering Man“ uns auf die letzten 200 Meter schicken wird. Schon überlaufen wir die 30er Matte und sind auf diesem gefürchteten Streckenabschnitt. Ich fürchte ihn nicht, denn ich bin hier immer gut klar gekommen. Ich merke aber, wie es mir schwerer fällt, die Pace zu halten. Gefühlt waren wir zu schnell, die Pace lag aber gerade noch bei 4:37. Junge, wir waren beim Halbmarathon 90 Sekunden vor der Zeit, die haben wir bis hier gehalten. Wir können also für zwölf Kilometer 7 Sekunden pro Kilometer langsamer laufen. So rechne ich mir das vor und weiß eigentlich, dass ich nicht langsamer laufen werde. Aber das Gefühl, es zu können, beruhigt mich. „Ich nehme jetzt ein wenig raus, wenn Du willst, lauf!“ sage ich zu Fabian. Aber er will nicht mehr. Wahrscheinlich denkt er gerade an meine Worte von Kilometerschild 25. Ich visiere die Autobahnbrücke an, die in der Ferne zu sehen ist und die ungefähr die Hälfte der Mainzer Landstraße markiert. Es gelingt uns das Tempo bis da zu halten. Jeder Meter mehr in der Pace ist ein Gewinn. „Noch eine Hausrunde um den See“, sagt Fabian. So denke ich auch immer, wenngleich meine Hausrunde erst bei Kilometer 36 beginnt. Kurz danach macht die Straße einen leichten Linksknick und man sieht die Eisenbahnüberführung, hinter der wir sie wieder verlassen dürfen. Das sind hier meine Hilfspunkte und die wirken ganz gut.
Die Stimmung ist auch hier ordentlich, der Veranstalter hat alle 800 Meter eine Band oder einen DJ hingestellt, das macht die Sache kurzweiliger. Aber wir werden langsamer. 4:39, 4:40, 4:41 lautet die Pace. Es geht nicht mehr schneller ab Kilometer 34. Als wir dann links abbiegen dürfen, überholen und Jens und die anderen beiden Pacer. Jetzt ist der Knackpunkt des Rennens, das ist mir sofort klar. Dran bleiben, heißt die Devise. Wenn die Pacer jetzt eine Lücke zu mir laufen, sind die 3:15 weg, das ist mir sofort klar. Also zwinge ich mich zum Tempo. Gefühlt sind die klar zu schnell, aber ich will jetzt nicht rechnen, sondern mich nur an Jens und seine Kollegen hängen. Dafür reicht meine Konzentration. Wir laufen auf der Europaallee auf unser Hotel zu und über die 35er Matte. Für einen Moment gewinnt der Schweinehund die Oberhoheit. „3:16 oder 3:17 sind auch gut. Mehr ist halt doch nicht drin.“ Aber ich denke auch an alle meine Freunde zuhause am PC, die nun die 35er Zeit sehen und sehen, dass ich sehr gut auf Kurs bin. Soll ich die enttäuschen, indem ich jetzt alles herschenke? Nein. Jetzt ist Marathon, diesen Kampf wollte ich haben und den werde ich jetzt ausfechten. Fabian sehe ich nicht mehr, aber nun leidet sowieso jeder für sich allein. Der Blick auf die Festhalle, auf die wir kurz zu- und dann daran vorbeilaufen, motiviert mich zusätzlich. Die Bilder von 2012 sind wieder da. Meine Freude auf dem Roten Teppich nach meiner 3:10:50. Dafür lohnt sich der Kampf. Und so schwer ist es auf einmal nicht mehr. Ich bin wieder neben Jens Meyer, der lobt mich noch, wie rund ich noch liefe. Also los. 6 Kilometer. Eine Seerunde.
Wie im Flug vergeht das Stück Mainzer Landstraße im Bankenviertel Richtung Alter Oper. 4:23 laufen wir plötzlich wieder, angetrieben von den vielen Zuschauern rechts und links. Das hätte ich mir vor drei Kilometern nicht vorstellen können. Der Kampf scheint sich zu lohnen. Meine Beine werden schwerer, aber es geht ja irgendwie. Noch 4 Kilometer, das ist nichts mehr. Da meldet sich mein Verdauungstrakt. Relativ plötzlich, fast hätte ich mir in die Hose gemacht. Im Moment laufen wir die relativ einsame Runde zwischen den Wolkenkratzern Richtung Kaiserplatz. Dort würde es ein Dixi geben. Soll ich da drauf? Dann wären die Pacer weg, die mir doch so helfen! Der Druck wird schnell uneerträglich, kurz vor der Hauptwache bei Kilometer 39,5 entdecke ich hinter der Blaskapelle das blau-weiße Häuschen. Ich verlasse die Strecke, das Ding ist besetzt. Aber schnell geht die Türe auf, ein Mitglied der Blaskapelle kommt heraus. Ich hinein, tue, was getan werden muss und bin wieder auf der Piste. Das hat Zeit gekostet.70 Sekunden, würde ich später auf meiner Aufzeichnung sehen. Aber ich fühle mich durch die kurze Pause irgendwie frischer und nehme schnell wieder Tempo auf. Jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren. Meine Uhr zeigt mir noch knapp 650 Meter Vorsprung auf meinen virtuellen Laufpartner. Den brauche ich mindestens, denn die von Garmin gemessene Strecke ist in etwa so viel länger. Aber ich kämpfe jetzt befreit. Mit einer 3:15 und ein paar Sekunden wäre ich nun genauso zufrieden. Es ist keine Bestzeit, darum ist es im Grunde egal.
Fabian ist wieder vor mir. Ich begrüße ihn. „Wo kommst Du her, ich dachte Du wärest weg?!“ fragt er mich. „Dixi-Pause, komm jetzt mit.“ Wir erreichen den letzten VP. Noch knapp 10 Minuten für etwas mehr als zwei Kilometer netto. Ich habe jetzt vom Virtual Partner an meiner Uhr auf Zeit umgeschaltet. „Trink Cola und weiter“, rate ich ihm noch und nehme wieder Tempo auf. Durch die Fressgasse geht es zur Alten Oper. „Don’t stop me now“, singt Freddy Mercury aus den Boxen. Einen passenderen Song könnte es nicht geben in diesem Moment. Nur noch zwei Ecken bis zur Festhalle. Ich überhole nur noch und sehe, zurück auf der Mainzer Landstraße auch wieder die Ballons der Pacer in der Ferne vor mir. „Das reicht!“ schwöre ich mir und zwinge meine Beine zu großen Schritten. Irgendwie fällt mir „Heinz Kapellmann“ jetzt ein. „Für Heinz Kapellmann“. Die Teilnehmer an unserem denkwürdigen Abendessen vom Samstag wissen, wovon ich rede. So ein Blödsinn, der einem hier einfällt. Aber egal, alles, was von den müden Waden und schweren Beinen ablenkt, ist nun legitim. Das Publikum hilft hier enorm, rechts und links herrschen Applaus, ein paar Mal höre ich meinen Namen. Das ist Frankfurt. Nicht der Kalkweg in Duisburg, wo Du alleine kämpfst. Hier wirst Du getragen. 4:16er Pace schaffe ich auf Kilometer 40, das war etwas zu schnell. Ganz kann ich das nicht halten. Ich biege wieder auf die Friedrich-Ebert-Anlage ab. 500 Meter freie Sicht auf den „Hammering Man“ gleich hinter dem Startbogen. Dahinter ist Kilometer 42, dann geht es nur noch die letzten 200 Meter zur und in die Festhalle.
Vor mir ein Shirt mit dem „Laufjunkie“-Auftdruck. Das muss Klaus sein, ein Läufer aus meiner Heimat. „Los Klaus, komm mit“, versuche ich ihn beim Überholen mitzunehmen. Noch weniger als zwei Minuten. Die Zeit verrinnt. Ich habe die Kurve zur Festhalle erreicht. Noch 50 Sekunden. Das reicht. Aus dem hellen Sonnenlicht hinein in die Dunkelheit. Der rote Teppich fühlt sich wie Wolken an, auf denen ich hinein schwebe. Ich spüre keine Erschöpfung mehr, nur noch Freude. Vor mir ist ein Läufer gestürzt, jemand kümmert sich bereits um ihn. Ich komme gerade daran vorbei, werde langsamer, gehe die letzten 10 Meter. Es reicht. Mein Arme recken sich nach oben, ich sauge die dramatische, klassische Musik, die gerade erklingt auf. Das bunte Licht, die magische Kuppel über mir. Das ganze Laufjahr im Zeitraffer, verkürzt auf 5-10 Sekunden. Das kann man nicht beschreiben. 3:14:57 stoppe ich von Hand im Ziel. Tatsächlich waren es zwei Sekunden weniger. Das Unmögliche noch möglich gemacht. Ich sinke auf die Knie, bin einen Moment kraftlos. Meine Stirn berührt den Teppich. Dafür habe ich es gemacht. Für diesen Moment. Es ist wie 2012, fast dieselbe Stelle. 4 Minuten langsamer, aber das ist mir jetzt egal. Ich stehe wieder auf, Fabian ist auch da. Persönliche Bestzeit, wir umarmen uns und bedanken uns gegenseitig. Es sind auch diese Begegnungen zweier wildfremder Menschen, die unterwegs eine Zeitlang unheimlich wichtig füreinander werden und die sich danach vielleicht nie mehr wieder sehen, die einen solchen Tag ausmachen. Kurz setzen wir uns noch im Ausgangsbereich an die Bande. Ein letzter Blick an die Kuppeldecke, dann geht es zu den Medaillen im Nachzielbereich. Ich hatte es fast verloren, mit den Pacern wieder gewonnen und am Dixi schon wieder verloren. Ein Wechselbad der Gefühle komprimiert auf dem letzten Sechstel der Strecke. Draußen bedanke ich mich bei Jens und den anderen beiden Pacern. Sie haben mich bei Kilometer 35 gerettet, ohne diese Orientierung hätte ich hier wohl aufgegeben. Jens lobt meinen „Lauf wie ein Uhrwerk“. Das freu mich aus so berufenem Munde. Mit Fabian trinke ich ein Bier, dann verabschieden wir uns und verabreden uns auf Facebook. Ich hatte ihm sehr geholfen und vor einigen Dummheiten bewahrt, dafür ist er mir durchaus dankbar. Und ich für seine Ablenkung, seine Gesellschaft. Die nicht zu viel Zeit zum Nachdenken unterwegs ließ.
Langsam trudeln alle anderen ein. Michael ist eine 3:20 gelaufen, ich war so konzentriert, dass ich nicht gemerkt habe, als ich ihn überholt hatte. Dann kommt Marco. Er sieht aus wie der „Walking Dead“, hat aber mit 3:38 genauso wie Nicole eine tolle persönlcihen Bestleistung gebracht. Wir stehen ein wenig bei Jens und Ricci, den 3:30er Pacern. Mäx, mein Zimmerkollege von der TorTour aus dem Hostel danach ist auch dabei. Auch er hat es unter 3:20 geschafft, trotz TorTour. Sage keiner, Ultras machen nur langsam.
Meine Claudia hatte Pech. Sie lief super an auf den ersten 10 Kilometern, dann lief ihr jemand in die Achillessehne, die nach einigen Problemen in diesem Jahr gerade wieder in Ordnung schien. Unter Scherzen versuchte sie noch 5 Kilometer, das Tempo zu halten, dann ging es nur noch langsamer weiter. Aber es ging weiter. Darauf bin ich unheimlich stolz, egal, ob das jetzt vernünftig ist oder nicht.
Insgesamt war es ein tolles Wochenende mit unseren Lauffreunden, das noch mit dem Empfang von Susanne als Letzte von uns in der Festhalle und einer netten Kaffeerunde in der Hotellobby endete.
Mein Laufjahr ist beendet. Nur noch ein paar Spaßläufe ohne Zeitziel oder Ambitionen. Im Dezember geht dann das Training für Rotterdam los. Am 9. April will ich die Bestzeit von 3:10 angreifen. Aber ich habe die Freude am Tempo wiedergefunden. Das stimmt mich optimistisch. Und 2017 in Frankfurt? Wer weiß…
Wow! Gratuliere! Extrem tolle Leistung (und ein toller Bericht). Viele Grüsse aus Bochum 🙂