Ja, wie soll man beginnen? Beginnen, von einem Ereignis zu schreiben, das nur Menschen nachvollziehen können, die in irgendeiner Form daran teilgenommen haben. Für alle anderen sind es sentimentale Spinner, Durchgeknallte, mit viel Glück in positivem Sinne verstanden. Ich versuche es dennoch. Wie es begann? Nun, es gab da einen 24h-Spendenlauf in Dortmund. Damals, als Max ein Team für diesen Spendenlauf zusammengestellt hatte und wir dabei sein durften. Warum auch immer. Damals hörten wir von diesem Lauf, lernten Leute kennen, die „so was“ schon mal gemacht hatten und liefen nebenbei an jenem Juniabend das erste Mal mehr als 42,195 Kilometer.
Ich will jetzt hier nicht unsere Laufgeschichte wiederholen, aber im Oktober 2012 fand eine TTdR „Zero“ statt, während ich mich auf meinen bisher schnellsten Marathon in Frankfurt vorbereitete und mich ein Trainingslauf vom CentrO in Oberhausen am Orange vorbei nach Hause führen sollte. Da stand Jens. Und da kam Alois, der war gerade angekommen. Da, genau da wusste ich, dass auch ich da mal ankommen wollte. Claudia hätte mich damals noch für verrückt erklärt, aber zwei Jahre später hatten wir uns als Helfer gemeldet und wurden für Start und Ziel eingeteilt. Diese Jobs hatten wir ausgeführt, aber wir wurden infiziert von jenem rätselhaften Geist, den gerade diese Veranstaltung ausstrahlt. Jens Vieler ist als Veranstalter keine einfache Person, aber ich habe gespürt, dass die Chemie damals total stimmte. Mir war schon am Sonntag vor dem großen Pfingststurm 2014 klar, dass ich alles daran setzen wollte, auch hier anzuschlagen.
Claudia und ich hatten einen Hunderter 2013 gelaufen, hatten dann den K78 gemeinsam bewältigt, systematisch ging es weiter. 130 km am Seilersee im letzten Jahr – mit Ruhepausen. Die Bewerbung, die Mail von Jens, dass wir teilnehmen durften. Obwohl….es soll nicht arrogant klingen, aber ich hatte nicht daran gezweifelt. Ich denke, Jens konnte einschätzen, dass wir wissen, auf was wir uns da einließen. Aber wußten wir es wirklich? Dann der Mauerweglauf mit seinen 100 Meilen. Davon wollte Claudia es damals abhängig machen , ob sie sich die ganze Distanz zutraut. Das Ergebnis ist bekannt.
In unserer Trainingsgruppe hatten wir immer wieder mal davon gesprochen, dass wir ein Team bräuchten. Und wir waren überwältigt von der Resonanz, obgleich nicht ganz sicher, ob alle wissen würden, auf was sie sich da einließen. Wir haben sie eingeladen und alle kamen. Ich hatte ein Video aus meinen Finisher-Aufnahmen, dem RTL-Bericht und weiteren Impressionen zusammen geschnitten und vorab gezeigt. Danach habe ich gefragt, ob jemand gehen möchte. Alle bleiben sitzen.
Bereits an diesem Abend wurde uns klar, wie viel Planung dahinter steckt. Denn wir wollten niemals allein unterwegs sein nach den ersten 20 oder 30 Kilometern. Wir wollten regelmäßige VP an der Strecke. Und wir bekamen es hin. Ich möchte eine solche Veranstaltung als Lauf sehen. Ich möchte soviel laufen, wie es geht.
Dann der Schreck im Februar – meine Verletzung bei der Winterlaufserie. Kapstadt-Traumreise zu Ostern in Gefahr, vielleicht auch die TorTour? Ich schaffte es, auch hier dank toller Hilfe und einigen schmerzhaften Übungen mit dem Blackball. Aber Kapstadt war ja nur der erste Schritt zurück. Am Seilersee Ende April sollten es dann noch einmal 100 km werden, teilweise in der Nacht. Bei Eiseskälte wurden auch die gut absolviert, zumindest bei mir. Claudia konnte sich irgendwie nicht motivieren, weshalb wir uns fast in die Haare bekamen. Dann kam der Mai und es wurde langsam ernst. Ich war heilfroh, dass wir noch die Riesenbecker Sixdays hatten, die uns die erste Maiwoche beschäftigten und vollständig von der TTdR ablenkten. So bleiben wir von den Nervositätsanfällen weitgehend verschont, die wunderbare Veranstaltung mit Marco und Kim gestattete uns nicht einmal, gemeinsam die Planung voran zu treiben. Die stand zwar seit Ende Januar bereits auf dem Papier, musste aber natürlich aktualisiert werden.
Das taten wir dann am Wochenende vorher. Eine Erinnerungsmail an unsere Crew, einige telefonische Absprachen, eine OP-bedingte Absage mit Umdisposition und 5 Tage später war dann der Freitag vorher da. Natürlich der 13., aber das übergingen wir mal geflissentlich . Die Eckpunkte unseres Plans sahen folgendes vor:
Abfahrt Samstag um 4:30 Uhr früh ab unserem Haus mit dem Begleitbus, einem Renault-Traffic 9-Sitzer, den mir ein Bekannter von seiner Firma Auto Cankaya in Rheinberg-Orsoy zur Verfügung gestellt hatte. In Duisburg dann Radbegleiter Marco und Kim und Bus-Copilot Werner einladen, dann ging es ins Sauerland, immer der aufgehenden Sonne entgegen. Aus Kosten- und Logistikgründen hatten wir auf eine Übernachtung in Winterberg verzichtet, die uns zwei Stunden längeren Schlaf beschert hätte.
Marco und Kim sollten so zwischen 20 und 40 Kilometer mit dem Rad einsteigen, der Bus mit Werner, Dirk und Anke würde so alle 10 km an die Strecke kommen und für uns einen VP aufbauen. Denn die offiziellen VP liegen bei der TorTour weit auseinander. Abends um 18:00 Uhr sollte dann Schichtwechsel sein. Michael, den ich im folgenden kurz Michl nenne, denn es kommt noch einer vor, und Holger übernahmen die Nachtschicht im Bus. Stefan löst Marco als Radbegleiter ab, Tanja löst Kim für die Nacht ab. Kim und Marco dann in den Bus zur Erholung. Später , gegen 23 Uhr kommt dann André dazu und will mit mir die zweite Hälfte Laufen. Dirk und Anke gehen in Arnsberg ins Hotel, hatten keine Lust, so weit nach Hause zu fahren.
Sonntag dann gegen 6:30 Uhr wieder Ablösung. Michl und Holger dürfen nach Hause, Tanja auch. Heike und Michael kommen, Dirk und Anke übernehmen nach Hotelübernachtung wieder den Bus. Markus kommt in seinem Wohnort Bochum . Wer dann was macht, sollte situativ entschieden werden. Marco und Kim steigen auf dem Rad wieder ein.
So weit der Plan. Aber der beste Plan ist der, der sich ändern kann. Bei Übergabe der Transferfahrzeuge, Firmenwagen von Dirk, der an der Hausverwaltung BF² GmbH und der Provinzial Fischer & Fischer OHG in Moers beteiligt ist und die er für die Transfers dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat, wurde die Crew gebrieft, dass sie von nun an alle Absprachen selbst zu treffen hätten. Es würde gelingen, das war mir klar.
Um kurz vor 7 am Samstag morgen trafen wir in Winterberg ein. Der Ort machte seinem Namen alle Ehre, die Temperatur war auf den letzten Kilometern hinauf auf die fast 680 m Meereshöhe konstant gesunken und zeigte so 4-5 Grad. Gefühlt war es durch den schneidenden Wind, der das Ruhrtal hinauf wehte, noch kälter. Der Parkplatz war schon recht voll. Das große Hallo bei allen Teilnehmern brauche ich nicht zu erwähnen, eine gewisse Anspannung ist nun aber überall zu spüren. Die Startunterlagenausgabe läuft schnell, noch zurück zum Auto, die Rennausrüstung anlegen. Ich entscheide mich für ein Power-Stripes Unterhemd, welches die Muskulatur auf Spannung hält. Dann Ein Winterlangarm-Shirt, natürlich in Orange. Und darüber dann das TTdR-Shirt. Am 14. Mai laufe ich herum wie am 14. Januar. Aber es ist ja genauso kalt. Ich hoffe einfach mal, dass es mit den nachlassenden Höhenmetern wärmer werden wird. Ich habe mehrfach gesagt, dass ich, wenn ich die Wahl gehabt hätte zwischen dem Wetter und der sengenden Hitze von 2014, ich die Hitze gewählt hätte. Dabei bleibe ich in diesem Moment. Das Briefing von Jens geht gewohnt schnell und unspektakulär über die Bühne. Schnell noch das Foto an der Ruhrquelle mit Claudia. Dann geht es endlich los. Ich denke nicht an die Mammutaufgabe, ich freue mich einfach auf tolle Erlebnisse unterwegs und bin ziemlich konzentriert.
Wir laufen los. Es ist ein großes Feld, 97 Starter haben sich auf den Weg gemacht. Es geht über einen Schotterweg, links Wald, rechts das Rinnsal in einer Wiese, das einmal der große Fluss werden soll. Ich gehe sofort in der Strecke auf. Den Moment will ich mitnehmen, so lange wie möglich in der Gegenwart bleiben. Denn hier ist das, was ich gerade tue, in der Zukunft liegen tiefschwarze Nacht, womöglich Übelkeit, Schmerzen und eine unendlich lange Strecke. Wir hatten das mit Marco und Kim im Oktober mit dem Fahrrad gemacht. Also mental in der Gegenwart bleiben. Das Feld hat sich sortiert, Olli Schoiber und die schnellen Jungs sind weg, wir laufen erst ein Stück mit Günter Zipplies, dann bleiben wir an Conny Bullig und Anja Tegatz hängen. Hier zu Beginn gibt es noch einige Anstiege, obwohl das Bergablaufen natürlich klar überwiegt. Die gehe ich von Beginn an, keine Körner mit bergauf rennen vergeuden. Anja und Conny machen es auch, die beiden müssen es ja wissen. Dann laufen wir eine Weile mit den beiden. Uns ist klar, dass wir deren Tempo hier als Newcomer lieber nicht zu lange beibehalten sollen, wir laufen teilweise schneller als 6er Pace. Aber ich tröste mich damit, dass es bergab geht. Der Wind pfeift fies von vorne und das ist tückisch, denn bei Gegenwind laufe ich meist automatisch schneller. Nicht nur ich, denn viele sind sehr schnell unterwegs, habe ich den Eindruck. Nach gut 10 Kilometern steigt Marco ein. Da wir noch zusammen laufen, wartet Kim noch bis zum ersten offiziellen VP. Unsere Crew hat extra den Tisch aufgebaut und einige Dinge bereit gelegt, ich nehme eine Kleinigkeit und schäme mich fast, dass ich so schnell weiter muss. Aber wie sagte Marcel doch im RTL-Bericht zur TTdR 2014 ? „Ist ja noch ein Stück!“.
Ich horch permanent in meinen linken Oberschenkel, das viele Bergablaufen tat nicht wirklich gut. Die Quatscherei mit Anja und Conny sowie Claudia war nett, aber sie ließ uns zu schnell laufen. Darum lösen wir uns ein wenig von den beiden und traben langsamer durch die kleinen Dörfer, bis wir auf den Radweg der Bundesstraße kommen, der uns Richtung Meschede führt. Hier wird der Ruhrtal-Radweg unschön, erführt über den Radweg an der Bundesstraße vorbei, während der Bach gut einen Kilometer weiter links sich durch die Felder schlängeln darf. Ist es wirklich so teuer, den Bauern ein paar Meter Ackerland abzukaufen und dort einen Schotterweg anzulegen? Sicherer wäre es alle Male. Claudia hat schon irgendwelche Probleme, ich denke mit der Achillessehne, die ihr seid einiger Zeit zu schaffen macht. Man spürt so etwas und will es andersherum auch gar nicht wissen. Für mich stand hier bereits fest, dass ich ab dem VP und damit bereits nach gut 30 km alleine weiter laufen wollte.
Der VP war senstationell gut bestückt, belegte Brötchen, Teilchen, Nussecken, Kaffee, Tee, alle Arten von Kaltgetränken. Bereits hier ein ganz dickes Lob an die Besatzung. Unsere Crew war auch dabei. Ich nahm einen Kaffee, eine Nussecke und ein halbes Brötchen mit Putenbrust, dann juckte es mir bereits wieder in den Füßen. Das warme Wintershirt zog ich aus, denn es war schon deutlich angenehmer geworden. Dann wollte ich weiter. Ich sagte Marco Bescheid, der konnte auf dem Rad ja nachkommen und ich trabte wieder an. Nicht zu gemütlich machen. Kurz darauf war ich dann also mit meinem Marco allein auf der Piste und unterwegs. Jetzt begann der Lauf richtig. Wir überqueren mal wieder die Ruhr, die hier schon einige Meter breit ist, dann geht es entlang der Hänge noch ein wenig hinauf uns hinunter. Ich bin sehr froh, auf das alles durch unsere Radtour im Oktober vorbereitet zu sein und bin erstaunt, was ich alles relativ punktgenau wieder erkenne. Marco ist ein guter Begleiter, wir scherzen immer wieder mal. Ab und an sehen wir noch Läuferinnen oder Läufer um uns herum, aber für diesen frühen Zeitpunkt finde ich es schon recht einsam. Es ist merkwürdig. In den siebziger Jahren bin ich hierher mit meinen Eltern in den Urlaub gefahren, zuletzt 1980, nach Olsberg, wo wir eben durchgelaufen sind. Damals war so etwas völlig unvorstellbar, von da aus nach Hause zu laufen, für mich als Kind sowieso. Ich hatte noch nicht einmal vom Marathonlaufen gehört. Irgendwo links in den Bergen liegt Fort Fun, der Freizeitpark mit seiner über 700 m langen Sommerrodelbahn. In den 70ern eine echte Sensation. Ich kann mich erinnern, dass ich eine ganz lange Zeit dafür angestanden hatte und es dann anfing, zu regnen. Da wurde die Eternit-Rinne aus Sicherheitsgründen sofort gesperrt. Ich hatte damals Rotz und Wasser geheult. Olsberg war damals eine ziemlich verregnete Woche, wir hatten ein Hotel mit Hallendbad. Damals das Nonplusultra und damit toll für mich mit meinen 12 Lenzen. Heute wohl eine jener Lokalitäten, an denen ein „zu verkaufen“ hängt. Die junge Familie fährt nicht mehr ins Sauerland, sie fliegt lieber einmal im Jahr irgendwo hin von wo selbst wir verrückte nicht nach Hause laufen würden. Aber ich schweife ab. Und das ist ganz gut so, die Kilometer rinnen durch die Anzeige meiner Garmin. Wir haben Meschede erreicht. Ich spüre bereits Anflüge von Wolfgang in meinem Schritt und da ich unsere Vaseline vergessen habe, lasse ich die Crew bitten, irgendwo in einem Drogeriemarkt welche zu besorgen. Das klappt ganz gut, nach etwa 40 Kilometern in Meschede hat unsere Crew sich erneut aufgebaut und ich kann das Zeug hemmungslos in meinem Schritt verteilen. Auch hier halte ich mich nicht lange auf und hinter dem Hertie-Betonbunker geht es weiter entlang des großen Flusses. Ich treffe auf Jens. Dem geht es schon nicht so gut, sein Knie macht wieder Probleme. Also sind wir schnell wieder an ihm vorbei. Die Strecke verläuft jetzt etliche Kilometer einfach auf dem Radweg entlang der Landstraße nach Arnsberg, dazu ist es ziemlich wellig. Von der Ruhr ist bald nichts mehr zu sehen, dafür begleitet uns die A46 stets zur Rechten mit ihren vielen großen und kleinen Talbrücken am Hang. Das Gute ist, da wir hier auf die 50 Kilometer zu gehen, dass es mir physisch recht gut geht und auch mein Kopf sich mit allen Dingen rechts und links der Strecke ablenken kann. Ich habe es so formuliert: „Ich bin in der Gegenwart“. Ich denke nicht über das, was noch kommen wird oder könnte und wann das wohl sein wird, ich denke immer an das, was ich vor und neben mir auf der Strecke sehen kann. Das möchte ich mir so lange wie möglich bewahren, so hatte ich es in meiner mentalen Strategie geplant. Der Wind kommt immer noch fies von vorne und ich habe immer noch nicht meine Handschuhe abgelegt. Für Marco auf dem Rad muss es ein vielfaches kälter sein, er schwitzt ja nicht einmal richtig bei dem Tempo. Vor mir sehe ich immer noch Yvonne und vor allem Betty. Was haben die vor. Betty ist eine sehr erfahrene Ultraläuferin, sie hat hier auch bereits vor vier Jahren die Gesamtstrecke gefinished. Aber das Tempo, was sie hier geht, ist für mich schon zu schnell. Hoffentlich rächt sich das nicht. Yvonne war vor zwei Jahren etwas so gegen 22:30 Uhr im Ziel, auch dafür ist das Tempo mörderisch hoch. Immer wieder überholen uns ihre Radbegleiter. Marco scherzt mit ihnen, so „beim 3. Mal endlich einen ausgeben“ und so. Ich hatte diesen elenden Radweg als eine lange, monotone Steigung im Kopf. Die Realität sah anders aus. Es geht mehrfach hinauf und dann auch wieder sanft hinunter. Aber die Kilometer fressen sich weiter ab. Es läuft noch und das möchte ich nutzen. Oben an der letzten Steigung steht unsere Crew noch einmal, dann geht es wieder hinab an die Ruhr und ganz langsam Richtung Arnsberg. Erst mal sind wir in Freienohl angekommen. Am Ort vorbei durch ein Gewerbegebiet, dann endlich mal wieder an der Ruhr entlang. Es geht an den Ruhrwiesen vorbei, hier wird gerade ein „Mittelalter-Spektakulum“ abgehalten und der Rauch der vielen Holzfeuer steigt unangenehm ins Gesicht. Der Wind bläst ihn uns nämlich genau entgegen. Dann sind wir am zweiten offiziellen VP angelangt. Ich setze mich auf eine der Bierzelt-Garnituren. Betty ist schon da und setzt sich neben mich, wir scherzen ein wenig. Anke hat mir ein dünneres Unterzieh-Shirt aus dem Auto gebracht, also zum ersten Mal richtig umziehen. Dann geht es auch schon wieder weiter, Claudia und Kim sehe ich noch kurz ankommen und kann mich verabschieden, dann bin ich wieder auf der Piste. Ein Amerikaner läuft kurz neben mir, der arbeitet gerade für ein Jahr in Stuttgart und läuft zu Hause in North Carolina auch Ultra-Läufe. Logisch, sonst würde er sich so etwas hier ja auch nicht antun dürfen. Er erzählt von einem Lauf über 100 Meilen, der auf einer der Küste parallel verlaufenden Nehrung endet, wo man fast 50 (Kilometer oder Meilen?) auf einen Leuchtturm zu läuft, links und rechts der Straße 300 Meter Strand und dann Wasser. Capa Hatteras, hab ich schon mal gehört. Nicht den Lauf, aber die Insel. Hab ich mir später mal auf Google Earth angesehen, sieht ziemlich abgefahren aus da. Windig ist es da wahrscheinlich auch. Kopftraining extrem. Mein amerikanischer Kumpel hat einen Radbegleiter mit einem kleinen Ein-Achs-Anhänger, der das hier die ganze Zeit durchzieht. Leider haben auch wir wieder unterschiedliche Geschwindigkeiten und so ist unser nettes Gespräch auch schon bald wieder beendet. Zumindest haben die Radwege an der Landstraße erst einmal ein Ende, wir durchlaufen wieder Wäldchen, einen Ort und dann geht es parallel zur Eisenbahn wieder an die Ruhr. Die Bahn verschwindet im Tunnel geradeaus, der Fluss nimmt eine Rechtskurve und fließt außen herum. Marco und ich folgen. Natürlich, was sonst. Hier bin ich sehr angetan von der schönen Strecke, die Sonne scheint und der Berg schirmt uns einen Moment von diesem ekligen Wind ab. Ich erinnere mich an unsere Herbst-Fahrradtour bei wesentlich schönerem Wetter, überhaupt bin ich erstaunt, wie gut ich die Gegend wieder erkenne. Marco auch, und der war schließlich dabei. Am Ende des Waldes geht es wieder über die Ruhr, hier warten Claudia und Wolfgang Steeg nochmal mit gezückten Kameras auf uns. Aber hier ist das Feld bereits verdammt weit auseinander gezogen. Es wird immer schwieriger werden, die meisten Läufer auf Bild zu bekommen. Wir sind wieder in den Ruhrauen, gleich muss ein Segelflugplatz kommen. Mein Magen beginnt, zu rebellieren. Ich müsste einmal irgendwie in größeren Geschäften…..einmal musste ich bereits geordnet in die Büsche, hier schaffe ich es so gerade noch in den Straßengraben. Gut, dass gerade niemand laufend oder mit dem Auto vorbei kommt. Ich müsste mir mal ein wenig Zeit nehmen, aber nach fast 60 Kilometern ist das in der freien Hocke nicht so einfach. Also schicke ich Marco vor zum Segelflugplatz, dort tut er tatsächlich jemanden auf, der mir das Vereinsheim aufschließt, wo ich den Luxus einer Toilette nutzen darf. In der Hoffnung, meine Entsorgungsprobleme nun gelöst zu haben geht es weiter. Noch einmal so 5 Kilometer auf dem Radweg der Straße entlang, dann in Arnsberg an die Ruhr. Es ist noch früh, aber Arnsberg ist lang. Das liegt daran, dass sich die Ruhr in langer Schleife um den Bergrücken mit der Altstadt oben herumschlängelt. Aber die Wege sind hier sehr schön, es läuft sich gut und vor allem abwechslungsreich. Der VP 82 in Arnsberg ist das nächste Ziel, dort gibt es leckere Nudeln und damit etwas Warmes in den Bauch. Bei etwa km 65 kommen wir an einem Parkplatz vorbei, aber unser Bus ist nicht da. Marco telefoniert, aber die drei sind noch etwas essen. Gut, auch die müssen ja mal etwas Anständiges zwischen die Zähne bekommen und so schnell haben die hier nicht mit uns gerechnet. Ich bin meiner Berlin-Zeit, die ich mal als Referenz für die ersten 100 Meilen angegeben hatte, ziemlich voraus. Getränke hat Marco genug dabei, aber Hunger hätte ich jetzt auch langsam. Bis zu den Nudeln ist es noch 15-16 Kilometer. Mir kommt dabei in den Sinn, dass das Sauerland hier fast schon hinter uns liegt. Ich hege die leise Hoffnung, dass mit der Westkurve, welche die Ruhr her endgültig zeichnet, auch der Gegenwind aufhört. Der ist hier kaum spürbar, durch die Sonne ist es sogar recht warm. Das ändert sich schlagartig, als ich das Ende des „Arnsberger Berges“ erreiche und quasi eine 180-Grad kehre laufe. Denn sofort bin ich wieder auf der Windseite und das Gebläse ist wieder an. Kurz darauf steht unser Bus endlich an einem Parkplatz neben der Strecke. Ich setze mich kurz hin, esse Kims leckeren Kuchen und einige Salzbrezeln, danach Gummizeugs. Das sollte mich bis zu den Nudeln bei Laune halten. Leider sollte sich das ganze etwas ziehen. Der nächste VP liegt an einem Fitness-Studio. Welches aber nicht in Arnsberg, sondern in Neheim liegt, dazu noch am entfernteren Ende. Mit diesen Gedanken im Kopf läuft es sich nicht gut. Du erwartest an jeder Siedlung den VP, aber der kommt und kommt noch nicht. Mit einem Physical Check lenke ich mich ab. Meine Hüfte, die ich nach dem ersten Marathon bereits schmerzhaft bemerkte, tut nicht mehr weh. Mein Verdauungstrakt scheint wieder in Ordnung. Meine Beine fühlen sich noch einigermaßen locker an. Was will ich also? Weiterlaufen, immer weiter. Endlich kommen wir an die Ruhr, dann an die Mündung der Möhne. Hier muss es sein. Und richtig. Während wir am anderen Ufer bereits einen oder zwei Läufer sehen, die den VP bereits hinter sich gelassen haben, erreichen auch wir die Holzbrücke über die Möhne. Die lassen wir links liegen, dann sind wir auf dem Parkplatz des Fitness-Studios. 82 Kilometer geschafft, es ist kurz nach 17:00 Uhr. Schalke führt 4:1 in Hoffenheim, was will ich mehr? Es beginnt zu regnen und ich gehe mit Marco hinein. Ich begrüße noch Uwe, Wolfgang, die hier herumspringen und freue mich über ein paar nette Worte, wie fit ich noch aussähe und so. Na ja, seien wir mal ehrlich, es sind noch gut 150 Kilometer, wäre ich hier schon nicht mehr fit und die kalte Nacht kommt bald, würde es eng werden. Nudeln sind gerade aus, alle Tische besetzt. Leider teilweise von Angehörigen der 100-Meilen-Starter. Na ja, wenn ich sitzen möchte, würde ich sie höflich bitten, aufzustehen. Vielleicht hätte man „Nur für 230-km-Läufer“ auf die Stühle schreiben sollen. Daran merke ich aber, dass man bereits empfindlich wird, wenn irgendetwas nicht perfekt läuft. Die psychische Belastung ist sehr hoch. Ich erhalte meine Nudeln und wähle die Tomatensauce, eine Bolognese möchte ich meinem Magen nicht zumuten. Die schmeckt sehr ordentlich. Stefan ist mit Tanja auch hier eingetroffen, der Schichtwechsel wird vorgezogen. Ab hier wird Stefan mich mit seinem Rad begleiten, Marco hat erst einmal Pause im Bus. Tanja wird mit Kim tauschen. Wir packen noch ein paar Dinge in Stefans Rucksack um. Holger und Michl sind auch eingetroffen, Dirk und Anke werden sich ins Hotel bis zur Frühschicht verabschieden. Alles klappt wie am Schnürchen. Ich bin stolz auf meine Crew. Also gebe ich wieder den Hektiker und will weiter. Möglichst viel Strecke vor der Dunkelheit abarbeiten. Und die kommende Gegend wird eintöniger werden, das weiß ich bereits. Wenn Du dann erst nichts mehr siehst, wird es noch schwerer, sich abzulenken. Gegen 17:45 sind wir wieder weg. Mit Stefan gibt es erst etwas mehr zu erzählen, ich erstatte Bericht über den bisherigen Tag. Es geht Richtung Wickede. Kilometer um Kilometer vergehen. Kein Mensch vor uns zu sehen, ich laufe stur mein Tempo. Am Bahnhof in Wickede schlängelt sich eine Fußgängerbrücke über die Gleise zurück Richtung Ruhr, dann belaufen wir einen wirklich schönen Park am Ufer des „Rivers“. Olaf und Nicole stehen hier, Mario vom OTV macht gerade etwas Pause und auch Marco und Tanja warten hier, allerdings ohne Bus. Ich darf mich einen Moment bei Olaf und Nicole setzen, dann geht es wieder weiter. Die Sonne ist noch da, der Wind allerdings auch. Ich philosophiere mit Stefan darüber, dass wir bald in Fröndenberg an unserem Hotel vorbeikommen, in dem wir im Oktober unsere Radtour für eine nette Übernachtung und ein opulentes Abendessen unterbrochen hatten. Würde mich das herunterziehen, weil nun ja leider kein weiches Bett und ein fettes Cordon-Bleu mit Fritten auf mich warten würde, sondern eine kalte lange Nacht an der Ruhr. Nein, in diesem Moment belastete mich das nicht. Ich verspürte nirgendwo den Wunsch, diesen Fluss zu verlassen, ich wollte ihm folgen. Immer weiter. Das Stück vor Fröndenberg zieht sich dahin, auch das war mir bekannt. Die 100 Kilometer rückten näher und waren irgendwann erreicht. Vor uns tauchten wieder zwei Läufer auf. Desiré mit ihrem Begleiter. Den schien sie in Ziel begleiten zu wollen, aber er machte hier einen ziemlich schlappen Eindruck. Im Überholen wechselte ich mit ihr ein paar Worte, dann ging es wieder weiter und die beiden fielen zurück. Immer wieder ein neuer Feldweg, als die ersten Häuser auftauchten, beschränkt sich der Ort damit, erst einmal nur rechts und links der Straße dahin zu wuchern. Kurz nachdem die 100 auf meiner Uhr angezeigt worden sind, steht unser Bus wieder da. André und Anna sind auch da. Ich setze mich kurz und stimme mit André ab, dass der bei 115 km einsteigen wird. Der nächste VP soll bereits kurz hinter Fröndenberg sein, darum halte ich mich nicht lange auf, sondern bitte den Bus, Claudia entgegen zu fahren und mache mich mit Stefan wieder auf die Socken. Langsam dämmert es. Wir erreichen das Hotel an der Brücke und überqueren die Ruhr. Hier irgendwo sollte der VP sein, 102 km sagt mein Garmin. Das mentale nächste Ziel heißt Halbzeit und sollte bald erreicht werden. Wir bewegen uns entlang einer Straße auf den nächsten Ort zu, Bösperde heißt das Dörfchen. Ein Läufer hat sich zu uns gesellt, auch er wartet auf den VP und etwas Warmes. Denn mit der untergehenden Sonne ist es schlagartig wieder kälter geworden. Stefan hat bereits meine Stadionjacke, die ich mir für die VP zum drüberziehen mitnehmen wollte, über seine Radjacke gezogen. Es zieht weiter wie Hechtsuppe. Mit Entsetzen sehen wir, dass die Strecke vor dem Ort nach rechts in die Felder abbiegt. Das nächste Dorf ist locker 3-4 Kilometer durch die Pampa entfernt. Das muss man im Kopf erst einmal hinbekommen. Ich habe keine Lust und werde einfach schneller. Der andere Läufer bleibt zurück. Pace kurz über 6 Minuten, es geht noch nach über 100 Kilometern. Der VP muss im nächsten Dorf sein, soviel ist sicher. Denn danach kommt eine weite Runde durch die Felder und da ist mit Sicherheit kein VP. Warum heißt dieser Blöde VP „102“ und liegt bei 107 Kilometern? Auf welche Probe will Jens Vieler uns dabei stellen? Jedenfalls bin ich froh, dass ich im letzten Büchsenlicht hier eintreffe. Ich nehme einen freien Stuhl und lasse mir heiße Brühe bringen. Es zieht leider ziemlich und ist daher alles andere als gemütlich. Neben mir sitzt Bernd Nuss, seit Jahren Organisator des 24h-Laufs am Seilersee und hier als einziger Teilnehmer in der Tretroller-Wertung unterwegs. Für ihn ist hier leider Schluss. Gesundheitliche Gründe zwingen zum Beenden. Wir sprechen ein wenig, ich weiß gar nicht mehr was. Aber es tut gut, vor der Nacht mit diesem Denkmal des Ultralaufens zu sprechen. Ehe es zu kalt wird, geht es weiter. Im letzten Licht ab in die weiten Felder, denn nun können es nur noch 8-10 Kilometer bis zum nächsten VP sein. Es ist hier im freien Feld noch hell genug, dass wir ohne Stirnlampen auskommen. Einen Läufer überholen wir unterwegs, als er sich Zeit nimmt, einen Wegweiser zu fotografieren. Ich bin jetzt seit fast 13 Stunden laufend unterwegs, dafür fühle ich mich relativ gut. An der Straße vor der nächsten Ruhrbrücke wartet noch einmal der Bus, diesmal mit Holger und Michl. Wieder mache ich keinen langen Boxenstopp, wir wollen weiter in die Dämmerung. Die Wege hier durch die Felder ziehen sich. Wir erfahren irgendwann, dass der Bus wieder bei etwa 115 stehen wird, an einer Gastronomie. Aber hier ist alles stockdunkel. Nirgendwo ein Licht zu sehen. Das ist schon gespenstisch, Du bist hier in der Zivilisation, aber nirgendwo scheint ein Licht. Ein Fenster, eine Straßenlaterne, Autos. Nichts. Einfach nur Nacht. Das sind die Momente, in denen der Fluss Deine Kraft aus den Beinen nimmt. Es scheint nicht mehr vorwärts zu gehen. Aber was soll es, die Hälfte haben wir bald. Der Rest würde irgendwie gehen. Und gehen kann ich ja auch gut. Stefan telefoniert mit dem Bus, der versucht sich mit der Lichthupe. Wir können immer noch nichts sehen. Wäre ich jetzt alleine, wäre ich mental geliefert. So arbeite ich mich voran. Es ist jetzt kein leichtes Laufen mehr, es ist ein arbeiten. Dann sehen wir endlich die Hauptstraße, in die unser Feldweg einmündet. Die führt über eine Brücke , dort steht dann endlich der Bus. Andre ist hier bereit, mich auf der zweiten Hälfte zu begleiten. Zusätzlich als Läufer. Das wird wieder helfen, davon bin ich überzeugt. Neue Gesprächspartner, ein vorgegebenes Lauftempo. Ich setze mich in den Bus. Michl ist so nett und friemelt mir die lange Lauftight über meine Schuhe, die kurze Compresssport lasse ich einfach drunter. Aber meine Beine möchte ich vor der zunehmenden Kälte schützen. Dazu die Aldi-Winterjacke unter meine Neon-Weste, dann ziehen wir von dannen.
Denn der Bus muss wieder zurück zu Claudia zu seinem letzten Standort. Bei 110. Ich habe hier 118 auf der Uhr, der VP 115 soll nur 500 Meter weiter sein. Dann gehen wir los. Am VP nehme ich erst einmal ein paar Stücke Schmalzbrot, dazu heißen Kaffee für die Nacht. Ich muss ja wach bleiben. Ricci ist auch da, Jens wohl auch, den sehe ich aber nicht. Ich erzähle Ricci, dass es mir überraschend gut geht und ich mich immer noch mental „in der Gegenwart“ bewege. Ich glaube, die erfahrene Ultra-Läuferin weiß, wovon ich rede. Dann reden wir noch über Pausen und Leute, die immer nur durchlaufen und am Ende platt sind. Ehe wir uns versehen, sind wir wieder unterwegs. Das nächste Ziel sind die 130 km, denn dann wird der Rest „zweistellig“.