TorTour de Ruhr 2016 Teil 2

Stockfinstere Nacht, 118 km auf der Uhr, welche „Akku leer“ anzeigt. So beginnt nun endgültig auch gefühlt der zweite Teil des Abenteuers. Ich lasse mir mein Akku-Pack geben und versuche, die noch laufende Garmin im Betrieb aufzuladen.

André kurz nach seinem Einstieg bei "Halbzeit"
André kurz nach seinem Einstieg bei „Halbzeit“

In Berlin beim Mauerweglauf hatte das wunderbar geklappt. Hier nicht. Immer wieder geht das Ding aus. Ich gebe auf. Andre hat seine Uhr ja gerade erst gestartet, sie wird wohl bis ins Ziel funktionieren. Also haben wir Kontrolle. Über die Zeit haben wir die ja sowieso, ist je letztlich jetzt sogar mir egal. Wir laufen durch die Felder in stockfinsterer Nacht, das heißt, so finster ist es gar nicht. Denn die Wolkendecke reißt ein wenig auf und der halbe Mond beleuchtet die Szenerie ganz gut. Zwei 100-Meilen-Läufer mit ihren Radbegleitern gehen an uns vorbei. An einer Abzweigung stehen sie und versuchen, sich an den Wegweisern zu orientieren. Ich schicke André ein Stück vor, er soll einmal schauen. Als wir da sind, erkenne ich den Weg. Es geht kurz bergan, dann an einem Sportplatz entlang. Ich erkenne das auch hier wieder. Wir sind nun fast schon in Schwerte. Und noch laufe ich ganz gut. Zwar freue ich mich auf kurze Berganstücke, weil ich die ja gehen kann, aber dann bin ich weiter laufend unterwegs. Die 100-Meiler sehe ich vor uns leuchten, richtig weg kommen die aber auch nicht. Wir kommen durch ein Wohngebiet, nur kurz, dann geht es wieder direkt ans Ruhrufer. Der Fluss ist hier schon richtig breit, bald schon würden die 4 Ruhrseen beginnen. Der Fluss erreicht seine erste Staustaufe, wird gebremst. Und der Akku der Uhr ist auch leer. Vorzeichen? Noch läuft es, nach über 120 gelaufenen Kilometern. An der Ruhr wurde der Radweg gerade frisch und neu asphaltiert. Es läuft. Ich sehe oben auf einem Berg etwas orange angestrahlt. Es ist das Kaiser-Wilhelm I. –Denkmal in Hohensyburg. Das gibt Kraft, das gibt Motivation. Nicht der gute, alte Wilhelm, der über die Ruhr mit ausgestreckter Rechten über seine prosperierende westfälische Provinz weist, den kann ich nicht erkennen. Aber die Erkenntnis, dass wir „im Revier“ sind, somit der Heimat wieder ein symbolisches Stück näher. Ich weiß, dass nun gleich die Umleitung über die Ruhr kommt und dann schon bald der Hengsteysee mit VP 130. Gleich? Na ja, ein wenig zieht es sich noch. Aber das macht mir wenig aus. Zumindest rede ich mir das ein. Die Brücke über die Ruhr finden wir sofort, wir müssen uns nicht lange an den Schildern zur Umleitung aufhalten. Über 120 Kilometer sind bereits gelaufen, es geht auf Mitternacht zu. Die Strecke führt nun entlang der Bundesstraße, über die Ruhr auf das Hagener Ufer. Es geht dann mehr oder weniger sanft ein ganzes Stück bergauf. Zur Rechten ist immer der Kaiser in Hohensyburg zu sehen. Hier gab es mal den „Fuck den Kaiser“-Marathon, seit der Sperrung der Strecke wegen Steinschlaggefahr ist der auch Geschichte. Ich hätte sowieso keinen Sinn darin gesehen, x-mal den Berg hinauf zum Kaiser zu rennen und dann das Ganze wieder hinunter. Sysiphos irgendwie, und grundsätzlich nicht einzusehen. Ganz anders dieser unendlich längere Weg. Er folgt dem Fluss, jenem Fluss, der unserer Heimat seinen Namen und seine heutige Gestalt gab. Während ich so vor mich hin sinniere und mir Bruce Springsteen’s „…but lately there ain’t been much work, on account of the economy“ wie eine dauerhafte 13244600_1192594437431478_1478706956107106254_nZustandsbeschreibung des Ruhrgebiets in den Ohren klingt, erreichen wir endlich das Ende der Straße. Hier, an der Kreuzung geht es zwischen einer großen Industrieanlage und der Lenne, welche hier den letzten großen Zufluss der Ruhr bildet, wieder an das Ufer des Flusses. Hier sind Schilder angebracht, „TTDR-VP“. Die „500 m“ sind von einem Pfeil bedeckt.. Kann  also näher oder auch weiter sein. Laufen wir erst einmal weiter. Wir laufen über einen Parkplatz auf den gepflasterten Uferweg. Der ist tückisch, denn einzelne Steine stehen hervor und laden zum Stolpern ein. Das würde hier fehlen. Ohne genaue Kilometerangabe (mein Garmin ist ja leer und bei André wissen wir nicht so genau, wo er eingestiegen ist, wir haben mal den VP 115 mit der Kilometerangabe als Orientierung genommen) ist die Frage, wo denn endlich VP 130 kommt. Klar, mit dem Rad waren wir hier im letzten Oktober, aber da sind einige Vereinsheime, Segler- und Campingheime, in denen man einen VP unterbringen könnte. Ich sehe licht, leider ist es das beleuchtete Pumpwerk auf der anderen Seite. Unser Weg führt uns in ganz leichten Wellen durch den Wald, aber das Wasser kann man riechen. Kennt Ihr das? Diesen merkwürdigen Geruch nach Feuchtigkeit? Oder ist meine Nase übersensibel geworden? Ich weiß es nicht. Es scheint immer leicht bergan zu gehen, was natürlich Blödsinn ist. Wahrscheinlich suche ich ein Argument, um gehen zu dürfen. Aber André lässt mich nicht, und das ist im Nachhinein betrachtet auch gut so. Wieder eine Kurve, immer noch alles dunkel. Ich fluche 13232899_1192594520764803_8550659721775869347_nvor mich hin. Wo ist dieser blöde VP? Ich könnte etwas Warmes zu essen gut brauchen, die Nudeln aus Neheim sind durch. Endlich sehen wir Licht, ein Vereinsheim, Eich Aufstellschild TTdR vor der Türe. Geschafft! 130 Kilometer. Ab nun nur noch zweistellig. Es ist zwanzig nach Zwölf, Pfingstsonntag. Etwas über 14 Stunden, bisher eine Bombenzeit. Aber so wird es nicht bleiben, das weiß ich. Drinnen erklingt erst einmal Applaus der Helfer, als wir eintreten. Lange Tische, ein ordentliches Büffet. Ich setze mich zu Alois und Reni, die hier als Support für Birger auf den Beinen sind. Alois schaufelt sich gerade Kartoffelbrei rein und empfiehlt mir den auch wärmstens. Stefan bringt mir einen Teller, auch Andre und Stefan sollen etwas essen. Die Kartoffelpampe schmeckt überraschend gut, ich vertilge gleich den Inhalt eines zweiten Tellers. Dann Kaffee, zum wachbleiben ganz gut, obwohl ich keine Hengsteysee02
„Schlafmüdigkeit“ spüre. Hier denke ich an Claudia. Wo mag sie sein? Wann wäre sie hier? Aber weiter will ich nicht denken. Ich fühle mich ihr in diesem Moment sehr verbunden, aber ich denke, dass jede Nachricht über ihren aktuellen Standort hinaus diese Verbindung gestört hätte. Es ist sehr warm, fast überheizt in dem Gemeinschaftsraum und ich spüre schon wieder „Hummeln im Hintern“.  Markus Flick kommt herein. Der war also hinter mir, irgendwo müssen wir an ihm vorbei sein. Alois teilt Stefan und Hengsteysee03André noch mit, dass es keine 100 Kilometer mehr sind. Der VP läge bei 130,7 km. Alois muss es ja wissen, wir nehmen dass jetzt mal als neue „Kalibrierung“. Dann mahne ich zum Aufbruch. Denn die weitere Strecke zieht sich vor meinem geistigen Auge. Harkortsee, Wetter, Wald bis Witten, Kemnader See….weiter will ich jetzt nicht denken. Es hört sich alles so nah und doch so weit weg an. Mein Garmin ist wieder geladen und tut erst einmal seinen Dienst. Natürlich nicht voll, aber ein Stück wird es wieder reichen. Leider hat er sich auf „0“ gestellt, kann ich jetzt auch nicht mehr ändern. Ich marschiere zu Beginn los, um das Essen erst ein wenig sacken zu lassen, verfalle dann aber recht schnell wieder in einen Laufschritt. Beim Mauerweglauf hatte mir der VP 103 irgendwie den Stecker gezogen, danach kam ich nicht mehr auf Tempo. Hier geht es noch, die Pace ist schnell wieder um die 7:15. Das hört sich langsam an, ist aber im Vergleich zu Berlin noch richtig gut. Erst einmal bin ich überrascht, wie schnell die alte Eisenbahnbrücke über die Ruhr erreicht ist, über die der Fußweg auf Holzplanken zwischen den Gleisen uns ans Herdecker Ufer führt. Rechts neben uns staut das Wehr das dunkle Wasser, irgendwo rauscht es kräftig durch. Wasser findet seinen Weg. Man kann es nicht unbegrenzt aufhalten. Schon sehe ich in der Dunkelheit schwach die Bögen des bekannten Eisenbahnviaduktes schimmern. Auch das ist ein Geschenk der Nacht, jenes schemenhafte Auftauchen von Gegenständen, Bauwerken, Bergen oder Bäumen. Auch hier ist der Viadukt schnell erreicht, wir gehen ein Stück, denn aufgrund einer Baustelle ist der Weg hier sehr schlecht und da ich die Beine nicht immer richtig hoch bekomme, habe ich Angst, zu stolpern. Wenn man auf so einer Tour einmal blöd hinfällt, kann einen das mental fertig machen. Auch wenn körperlich gar nicht so viel passiert. Nein, das möchte ich nicht riskieren. Wir sind schon deutlich unter 100 Kilometern Rest. Vielleicht noch 97 oder so. Wie lächerlich das klingt und doch wieder wie weit.

Der Uferweg ist auf der einen Seite bewaldet, in der Ferne sind hinter der Kurve die Lichter der Stadt Wetter zu sehen. Wetterleuchten sozusagen. Rechts auf einer Bank liegt ein Läufer im Fahradhänger, die Füße auf die Bank, dort liegt sein Begleiter. 13220885_1193431267347795_4299090187978717605_nBeide in Schlafsäcke gedreht. Ruhepause in der Eiseskälte des nächtlichen Windes. Der der hört nicht auf, von vorne zu blasen. Schlafen könnte ich jetzt nicht, ich bin von einer inneren Unruhe befallen, die mich immer weiter laufen lässt. Es klappt sogar noch ein Kilometer unter 7er Pace. André hält mich gut auf Tempo. Nach einer knappen Stunde ist Wetter durchlaufen. Es ging ein Stück durch den Ort mit seiner schönen Uferpromenade, dann durch ein schlafendes Wohngebiet. Nur wenige Nachtschwärmer auf dem Heimweg kommen uns entgegen. Meine Beine werden unmerklich schwerer, aber der Kopf hat das noch im Griff. Mein Knie fängt ab und zu an jenen Schmerz auszustrahlen, der in Berlin zum „Laufstopp“ bei Kilometer 140 geführt hatte und mich zwang, den Rest der Strecke zu marschieren. Wenn das hier schon passiert, prost Mahlzeit. Ich versuche, intensiv in den Schmerz hinein zu horchen und ihn „wegzuschieben“. Und das scheint auch zu gelingen. Ob das Einbildung ist, ob der Verstand über die Nervenreize siegt, ich weiß es nicht. Es hilft aber wirklich, sich auf den Schmerz zu konzentrieren und für sich zu analysieren, woraus dieser wirklich besteht. Irgendwann, so bilde ich mir ein, gehen dem Schmerz dann die Argumente aus. Wir haben ein kleines Gewerbegebiet am Ende von Wetter erreicht, es geht wieder über die Ruhr. Den VP 140 „Feuerwehr Wetter“ haben wir nicht gefunden. Im Grunde ist das Egal, wir brauchen nichts. Eigentlich kann der erst auf der anderen Seite kommen, denn 140 km haben wir knapp noch nicht. Aber da drüben ist nicht viel, es geht durch die Ruhrauen und an Ortschaften kann ich mich nicht wirklich erinnern. Wieder so etwas, was einem auf den Geist geht. Wir lenken uns dahingehend ab, dass wir drei uns aufbauen, die halbe Zeit der Dunkelheit sei schon um. Es ist gegen ein Uhr nachts, gegen vier würden wir wieder etwas sehen können. Zunächst aber wird es verdammt still. In den Ruhrauen ist nichts zu hören, außer unseren Schritten und ab und an einem 100-Meilen-Läufer. Die Strecke ist mir klar, aber ich kann ihre Dauer im Moment nicht einschätzen. Der Nächste „Verlaufer“ lauert an der Fähre, denn die fährt nun einmal nachts nicht. Wie weit es bis dahin ist…keine Ahnung. Bei Wengern geht es kurz hinauf an eine Straße. Hier könnte noch der VP sein, aber alles ist dunkel und verlassen. Den VP haben wir wohl verpasst. Versorgungstechnisch macht das nichts. Stefan telefoniert mit der Crew und sie versprechen uns, in wenigen Kilometern auf uns zu warten. Es geht wieder steil hinab, durch einen Eisenbahntunnel und dann in den Wald. Hier ist es „duster wie im Sack“, die kurvige Strecke durch die Ruhrauen istv ein Geduldsspiel. Dann endlich der Ort(Bommern), in dem es kurz bergauf geht. Endlich wieder Gehpause. Frank Müller und sein Radbegleiter stehen hier wieder, wir überholen uns ab und an gegenseitig. Zumindest ein Anhaltspunkt, dass wir hier richtig sind. Denn einen 100-Meilen-Läufer haben wir auch schon länger nicht mehr gesehen. Hinter dem Ort ist die Zeche Nachtigall ausgeschildert, da irgendwo ist die Fähre. Noch 4,5 Kilometer laut Radschild. Das hört sich nicht viel an, aber schnurgerade, Bäume auf der einen und die zugewachsene Bahnlinie des Museumszuges auf der anderen Seite zieht auch diese Strecke sich wie Kaugummi. Ich muss ab und an ein kleines Stück marschieren, meinem Magen geht es nicht gut. Gel vertrage ich nicht mehr, das letzte Zeug davon brennt wie Feuer in an meiner Magenschleimhaut. Ich freue mich auf einen Schluck haferschleim am Bus. Hinter uns höre ich Schritte, eine 100-Melen-Läuferin kommt vorbei. Zwei, drei Worte, dann trennen sich unsere Wege wieder. Denn endlich hat der Wald zur Rechten ein Ende, ein paar Häuser tauchen auf und auch unser Bus. Holger und Michl. Haben bereits aufgebaut.

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Holger und Michael in der „Teeküche“

Ich darf mich kurz setzen und frage nach einem Tee. Heißes Wasser ist schon vorbereitet, das warme Gebräu tut gut in der Kälte. Essen mag ich nicht viel, aber einen Schluck Haferschleim trinke ich, auf das er meinen Magen auffülle. Holger ist quasi entsetzt, wie schnell wir unterwegs seien. Es sind zwei Stunden seit dem VP 130 vergangen. 17,5 Kilometer sind schon wieder Geschichte, das hört sich gut an. Zehn Minuten gönne ich mir, dann geht es weiter. Es geht weiter, aber auch hier laufe ich schnell wieder an. Dann erscheint ein Schilderwald. Fähre, Haus Hardenstein links ab, rechts herunter Umleitung außerhalb der Fährzeiten. Man muss aber ein wenig um den Schildermast herum gehen, um dieses zweite Schild lesen zu können. Das sollte einigen zum Verhängnis werden, die sich hier böse verlaufen haben. Wir sind jedenfalls richtig und überraschen schnell wieder auf der Ruhrbrücke, die uns auf das Nordufer bringt. Bus09Entlang einer größeren Straße geht es leicht bergab weiter. Aber auch die zieht sich wieder hin. Es ist morgens früh zwischen zwei und drei, die wenigen Häuser sind verdunkelt, kein Mensch ist zu sehen. Außer hin und wieder einem vereinzelten Läufer, zumeist mit Radbegleiter. Es kann nicht mehr weit zum Kemnader See sein. Hier kennen wir uns ein wenig aus, wir hatten zwei Mal an einer Drachenboot-Regatta hier in den Ruhrwiesen teilgenommen, wo wir im Boot der TTG Witten mitpaddeln durften. Endlich kommt der Abzweig in die Ruhrwiesen, wo auch die Fähre am Ufer vertäut liegt, ebenso wie ein Ausflugsboot. Von hier kann es nicht mehr weit zum Kemnader See und damit zum VP 155 sein. Vor mir läuft Marika, ebenfalls eine sehr erfahrene Ultraläuferin. Sie sollte uns ein ganzes Stück in Sichtweite begleiten. Wir bleiben dahinter, ich spüre ein ziemliches Rumoren im Bauch und muss mich mal an die Büsche verabschieden. Nach erfolgreichem Abschluss geht es weiter, leider liegt der VP am anderen Ende einer Ausbuchtung, die wir erst noch einmal umlaufen müssen. Dafür zeigt sich langsam ein Silberstreif am Horizont. Über eine Holzbrücke, vorbei am Erlebnisschwimmbad erreichen wir endlich den VP. Gute 25 Kilometer hinter jenem am Hengsteysee. Es ist gegen halb vier. Die Nacht ist fast um, das Schwarz wird langsam zu Grau, aber kalt ist es immer noch. Kemnader See01Ich setze mich auf einen der Klappstühle und versuche, etwas zu essen. Es will nicht so wirklich. Kaffee ist gut und heiß, er wärmt ein wenig von innen auf. Claudia soll große Probleme haben, wo sie gerade genau ist, will ich gar nicht wissen. Aber sie kämpft und sie wird kämpfen, das weiß ich. Auch ich habe jetzt zu kämpfen. Es wird irgendwie schwerer. Aber nun nehme ich mir die hundert Meilen als Ziel vor. Dafür bin ich noch gut unterwegs, schneller als in Berlin. Scheinbar hatte die Hitze damals mehr Körner gefordert als die Kälte heute und….gestern. Ja, ich bin ja seit gestern unterwegs. Krasser Scheiß….fällt mir der Spruch der Berliner Göre in etwa um die gleiche Uhrzeit irgendwo in einer Kreuzberger Toreinfahrt ein, als sie Henning und mich vorbeilaufen sah. Egal, das ist lange her, hier ist die Ruhr bzw. der Kemnader See, und der ist noch ein Stück lang. Wir einigen uns mit dem Begleitfahrzeug telefonisch, dass wir bis zu Rolli’s VP „WAT läuft“ in Bochum mit einem Besuch des Tourbusses würden auskommen müssen, es geht also nach 10 Minuten weiter. Es sollten 19 Kilometer werden, die mir so manchen Zahn ziehen würden. Erst mal ging es ohne Stirnlampe weiter, was schon mal ganz gut tat. Entlang der gut ausgebauten Radwege am See kamen wir schnell auf das Jahrmarktgelände. Irgendwie surreal ging es zwischen geschlossenen Kirmes-Buden hindurch, durch deren heruntergelassene Rollos der Duft von kandierten Äpfeln und gebrannten Mandeln drang. Meine Übelkeit stieg dadurch leider ein wenig an. Zumal fühlte sich mein Magen absolut leer an. Ich musste immer wieder anhalten, die Gehpausen wurden länger. Das ist zu früh. Aber ich spürte es immer wieder aus meinem Magen hochsteigen. Nun ist es für mich kein Problem, mir das Essen halt noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, wenn es mir danach besser gehen würde. Aber wenn  nichts mehr drin bleibt, ist die Versorgung halt schwierig und meine Speicher fühlten sich irgendwie leer an. Gut, dass auch eine erfahrene Läuferin wie Marika vor mir immer wieder einmal näher kam. Es wird auch ein wenig wellig an der Strecke, hier zwischen dem Ende des Kemnader Sees und Hattingen. Hundert Meilen waren erledigt, in 21 Stunden und 29 Minuten. Hey, ich hatte meine Bestzeit über hundert Meilen mal eben um über eineinhalb Stunden verbessert! Bekam ich jetzt die Quittung für das ambitionierte Anfangstempo mit Anja und Conny? Nein. Die Vögel begannen mit einem Male laut zu singen, ein Signal, dass endgültig der neue Tag angebrochen war. In Biel hatte mir das neue Kraft gegeben. In Berlin war ich fast da. Aber hier war die Kraft dennoch weg. Irgendwie ging es nicht mehr vorwärts. So konnte es nicht weitergehen. Ja, ich kann 9:15-9:30 Minuten pro Kilometer marschieren, aber mit Pasen wären das nur noch 6 Stundenkilometer. Über 11 Stunden, nein, das wollte ich so nicht. Also 500 Meter Laufschritt, ehe mir dann durch das Schütteln beim Laufen wieder richtig schlecht wurde, 500 Meter Gehpause, oder besser Marschierpause. Das ging ganz gut. Die Pace blieb irgendwo zwischen 7:30 und 7:45, das gab mir wieder Auftrieb. Ich bin da sehr diszipliniert, ein Blick auf die Uhr, sobald die 500 Meter um waren, wurde wieder los gelaufen. Dabei stellte ich fest, dass auf diesem Wege auch die Kilometer wieder wesentlich schneller dahin flossen. Wie auch die Ruhr, die die „Bremse“ Kemnader See nun hinter sich hatte und die nun Richtung Baldeneysee floss. Es ging hier durch die Ruhrauen, mal über Straßen und Feldwege, dann wieder zurück ans Ufer. Es ist kurz vor sechs, als wir am Ende des langen Radweges Marco auf dem Rad uns entgegen kommen sehen. Dort hinter dem Campingplatz direkt an der Ruhr ist unser Bus, warten Holger und Michl auf uns. Der Schichtwechsel ist auch schon aufgestanden, wie ich der What’s App-Gruppe entnehme.  Ich setze mich und trinke zunächst einen Tee, der wärmt und beruhigt meinen Magen. Dann verlange ich nach einem der Milchhörnchen, die wir in einer der vielen Tupperdosen dabei haben. Dabei passiert es. Ich habe kaum den ersten Bissen zerkaut und heruntergeschluckt, da kommt mir alles wieder hoch. Gerade schaffe ich es, mich über die Kette zu beugen, welche die Wiese des Campingplatzes vom Straßenrand abtrennt.  Mahlzeit. Das verlängert meine Pause ein wenig und lässt den Magen leer. Jetzt weiter, nicht lange nachdenken, einfach laufen – gehen – laufen –gehen. Bei Rollis VP 175 warten bereits Markus als neue Radbegleitung und Michael Packroß auf mich. Heike wartet auf Claudia, bei ihr soll nun aber zunächst Marco übernehmen. Kim musste sich in der Nacht abholen lassen, sie war wirklich krank und die Nacht im eiskalten Bus hätte für sie keinen Sinn mehr gemacht. Unser Team regelt das alles aber toll von alleine. Es geht weiter im 500/500er Takt. Die Ruhrbrücke ist schnell erreicht, wieder zurück auf das Südufer. Die folgenden Ruhrschleifen male ich mir lieber nicht vor meinem geistigen Auge aus. Wir sind hier in der Nähe der Henrichshütte, ab hier bin ich alles irgendwann schon einmal in einzelnen Etappen gelaufen. 2011, mit Dirk und Anke, die gleich wieder den Bus von der großartigen Nachtschicht Holger und Michl übernehmen. Damals in der Marathonvorbereitung für Hamburg mit den beiden waren wir hier gestartet, das zweite Auto parkte in Essen. 35 Kilometer Longjogg. Hätte mir damals einer erzählt…..lassen wir das und konzentrieren uns auf den Fluss neben uns. Eine Reihe Schwäne machen eine Wasserlandung. Vor uns die Höhenzüge des Essener Südens. Rechts oben Bochum. Hört sich schon heimischer an als Schwerte oder so, denke ich mir. Immer weiter, André gibt einen super Rhythmus vor, wobei es ihm unmöglich ist, in den Gehpausen mit meinem Marschtempo gehend mitzuhalten. Er läuft dann immer ein wenig früher an und holt mich dann ein. Das Stück Ruhr hier ist für mich eines der schönsten. Kuhweiden, manchmal standen die Tiere hier direkt in der Ruhr. Heute nicht, ist selbst denen zu kalt. Rechts und links die Höhenzüge, es ist fast wie im Urlaub. Leider beginnt es heftig zu regnen. Gleich wird es gefühlte zwei Grad kälter, ich ziehe meine Regenjacke über. In den Gehpausen quietschen die Clouds unter meinen Sohlen nun erbärmlich, beim Laufen geht es. Den 500/500er Schritt haben wir nun schon etliche Kilometer hinter uns und er funktioniert sehr gut. In Berlin, kurz bevor ich gehen musste, war meine Pace auf 8:30-8:45 abgesunken, obwohl ich lief. Hier schaffe ich es immer noch, unter 8 Minuten zu bleiben, Wir kommen richtig voran. Dann erreichen wir endlich die gesperrte Schwimmbrücke und den VP. Durch den Regen ist alles nass geworden, leider auch die Sitzgelegenheiten. Ich erspähe ein Stück Plastikfolie in einem Karton unter dem Tapeziertisch und lasse es mir geben. Zumindest sitze ich trocken. Der Regen hat gerade wieder aufgehört, aber der dunkelgraue Himmel macht wenig Hoffnung auf Besserung. Heike ist hier, Dirk, Anke, Michael Packroß und auch Markus. Der wohnt hier in der Nähe und hat frischen Kaffee für uns in seinen Packtaschen. Den vertrage ich, etwas zu essen eher weniger. Ich trinke Haferschleim und lasse eine Flasche in Markus Packtaschen verstauen. Stefan darf sich verabschieden, er hat einen schwierigen Job in der Kälte der Nacht toll gemeistert. Während wir uns auf machen, fährt der Bus wieder Richtung Claudia, die leider noch weiter zurück gefallen ist. Lieber nicht darüber nachdenken, aber sie läuft und macht weiter. Wir auch. In neuer Besetzung geht es zu viert weiter. Michael und André kennen sich noch nicht so gut und haben etwas zu erzählen, ich berichte Markus von den bisherigen Erlebnissen. Es geht weiter, leider auch mit dem Regen. Markus erzählt von seinen langen Läufen hier am Ruhrufer in der Vorbereitung auf unseren gemeinsamen Marathon 2013. Fast drei Jahre ist das nun her, als ich ihn ins Ziel in die Festhalle begleitet hatte, eine Woche, bevor wir nach New York flogen. Aber die Kraft ist schnell wieder weg, wovon soll sie auch kommen. Meinem Magen geht es so la la, zumindest musste ich mich nicht mehr übergeben. Aber ich fühle eine fast unheimliche Gewissheit, dass diese letzten gut 50 Kilometer zu schaffen sein werden. Mein Knie hat vor dem Magen kapituliert und sendet keine Schmerzsignale mehr, dieses Problem scheine ich losgeworden zu sein, irgendwo am langen Fluss. Wieder regnet es, wieder die blöde Regenjacke über ziehen. In Essen-Stehle geht es wieder über die Ruhr, dann sofort an die schöne Uferpromenade. André und Markus hätten sie fast verpasst, dafür verpasse ich den Bus, der hier wieder steht. Markus fuhr kurz hin, während ich schon weiter gelaufen war. Es sind noch ein paar Kilometer bis zum berühmten VP 188 „Ab hier nur noch ein Marathon“.  Aber die Gegend wird immer bekannter. Im Moment sind André und Michael keine Hilfe, denn sie unterhalten sich und laufen vor. Ich habe ja Markus und meine Uhr, die mich vorwärts kommandiert. Immer noch schaffe ich eine Pace um die 7:30 Minuten mit meinen Gehpausen, innerlich feiere ich mich für diese grandiose Idee aus dem nichts. Das war nicht geplant, nie ausprobiert und klappte doch so gut. Der Regen hatte wieder aufgehört, vielleicht schaffte es ja endlich mal die Sonne ein paar Minuten durch die Wolken. Aber das war wohl zuviel verlangt. Wir liefen über die ersten beiden alten Eisenbahnbrücken an einer alten Schleuse, dann ging es weiter in das Naturschutzgebiet vor Rellinghausen. Es ging immer noch irgendwie laufen und gehend, ich musste mich wundern. Ich begann zu rechnen, dass wir nun mit 4,5 km/h vor Zielschluss um 22 Uhr in Duisburg sein würden, Markus meinte, das sei ja quatsch. Ja, aber es beruhigt ungemein. Wann würde Claudia wohl hier sein? Wie lange würde sie dann noch brauchen? Darüber konnte ich mir im Ziel Gedanken machen. Ich war irgendwie schon hier ziemlich stolz auf mich. Bestzeit über hundert Meilen, schon weit vor dem Plan hier in Essen. 13221506_226857967686080_554634987931129581_nUnd meine Probleme waren überschaubar, überschaubarer als in Berlin, wo ich die letzten 21 km marschieren musste, weil mein Knie kein Laufen mehr zuließ. An der „Roten Mühle“ verlassen wir das direkte Ruhrufer, wir traben und gehen weiter Richtung Holzbrücke am Baldeneysee. Eigentlich ist das ja eine Stahlbrücke, früher einmal für die Eisenbahn errichtet, aber aufgrund ihrer Holz-Fahrbahn nennen wir sie alle „Holzbrücke“. Schon ist der Uferweg dahin in Sicht, ich beschließe, die Holzbrücke laufend zu überqueren, auch wenn meine 500 Meter traben gerade zu Brückenbeginn um sind. Dort könnten ja Laufbekannte sein, die sollen mich laufend ankommen sehen. So ein Blödsinn, wohl jeder hätte Verständnis für eine Gehpause. Egal, ich freue mich wahnsinnig auf den VP, den wir gegen kurz nach 9 Uhr am Morgen erreichen. Man empfängt uns sehr herzlich, es gibt warme Kartoffel-Broccoli Suppe, die ich mir gerne geben lasse. Ich fange plötzlich an zu weinen. Warum das? Ich sitze hier auf einer Bierzelt-Bank an meiner Haus- und Hof-Trainingsrunde und mir schießen Tränen in die Augen? Ich brauche einen Moment, mich wieder zu sammeln. Warum das nun kam, weiß ich nicht. Gefühlt bin ich im Ziel, so etwas hatte ich auch in Biel 17 km vor dem Ende. Es ist wohl der Moment, wo die letzten Zweifel aus dem Kopf verschwinden. Es zeigt aber auch die psychische Belastung, die die Nacht für mich bedeutet haben muss und die erst hier, auf absolut bekanntem Terrain, einer riesigen Erleichterung und einem Stolz weicht, es geschafft zu haben. Die Suppe wird mir angereicht. Die kann ich trinken, sie ist recht dickflüssig und liefert schnell Energie. Vor allem scheint mein Magen sie zu vertragen.  Vorsichtshalber nehme ich einen zweiten Becher. Wie immer geht es nach 10 Minuten Pause weiter, das lange Hardenberg-Ufer bis nach Essen-Werden. Wieder ziehen dunkle Wolken auf. Noch lassen sie uns in Ruhe.  Nach etwa 3 ½  Kilometern erreichen wir Haus Scheppen, den alten Rittersitz. Ein beliebter Bikertreff, einige sitzen hier bereits in der Freiluft-Gastronomie. Wenn die wüssten, wo wir herkommen. Wie oft habe ich mir auf den Trainingsrunden mit Marc Böhmes Samstags-Lauftreff hier am See die Frage gestellt, wie es wäre, wenn ich bei der Tor Tour hier angekommen sein würde. Es ist so weit. Ich bin hier. Und es sind keine 40 Kilometer mehr. Das Anlaufen fällt immer schwerer, das Durchhalten der 500 Meter auch, aber das Ziel ist jetzt zum Greifen nah. Dann beginnt der Regen. Nein, es ist kein Regen, es hagelt. Dicke weiße Körner.

Mit Andre und Michael Packroß im Hagel am Baldeneysee
Mit Andre und Michael Packroß im Hagel am Baldeneysee

Ich ziehe die Kapuze über meine Schirmmütze, die hält das meiste ab. Der dichte Wald zur Linken hilft auch ein wenig. Dennoch wird es sofort wieder noch empfindlicher kalt.  Diese Kälte ist es, die mich fertig macht. Immer der kalte Wind von vorne, Temperaturen im niedrigen einstelligen Bereich und das Mitte Mai! Die Hagelkörner bleiben liegen, der Asphalt ist weiß gesprenkelt. Immerhin hat es aufgehört, das Rest schmilzt schnell dahin. Michael , Markus und André unterhalten mich gut, ich sehe bereits die Villa Hügel hoch über dem Fluss und schon bald werden wir Werden erreichen. Hier soll dann der Bus noch einmal für uns bereit stehen. Es wäre jetzt für den Kopf wichtig, dass die VP-Stationen nur noch 7-8 Kilometer auseinander liegen. Die Motivation macht es leichter, als wenn es in diesem Tempo unüberschaubare 15-18 Kilometer sind. Einen Offiziellen gibt es noch, VP 207 unter der Ruhrtal-Brücke.  Das Wehr ist erreicht, welches den Baldeneysee aufstaut. Die Ruhrseen sind geschafft. Ich schreie den Fluss an. „Euch habe ich. 4 verdammte Seen. Hengsteysee, Harkortsee, Kemnader See und Dich!“  Muss für Passanten ziemlich irre aussehen. Dann gehe bzw. laufe ich weiter bis zur Kettwiger Brücke. Bereits hier halten wir Ausschau nach unserem Bus, der hier irgendwo stehen soll. Tut er aber nicht. Ich werde innerlich schon wieder aggressiv. Wir müssen erst über die Brücke, über die große Kreuzung und dann noch einmal abseits der Strecke 50 Meter die Straße hinunter. Es ist unfair den Busbesatzungen gegenüber, denn die müssen ja auch sehen, wo sie parken können. Das schwierige ist halt, dass man in einer solchen Belastung mental jeden Meter zusätzlich verflucht, den das Auto weiter weg steht. Man möchte es einfach am erstmöglichen erreichbaren Punkt haben. Markus sagt mir dann immer, dann sei es ja vom Auto aus wieder Stückchen kürzer zum Ziel und damit hat er sogar Recht. Es gelingt mir auch, meinen Ärger vor der Bus-Crew zu verbergen, das hoffe ich zumindest. Leider gibt es schlechte Nachrichten von Claudia, sie kommt kaum noch voran. Wir beschließen, Ihr Michael als zusätzliche Laufbegleitung mit meiner 500/500 Taktik zu schicken, so dass er dann am Bus bleibt und ich mit Markus und André alleine mich auf den langen Weg zwischen Essen-Werden und Kettwig mache. Aufgrund der Entfernung würde es keinen weiteren Bus-Treffpunkt vor dem VP in Mintard geben. Mich treibt das nächste Ziel an, es sind die 200 Kilometer. Jene schon fast unvorstellbare Zahl , die ich schon bald abgelaufen haben werde. Irgendwo kurz hinter dem Kattenturm ist es so weit. Das auch noch fast zum Ende einer Laufphase. 200 Kilometer! Wahnsinn. Aber auch noch etwa dreißig zu bewältigen. Das ist nun ein Geduldsspiel. Das Wetter schein nun erst einmal trocken zu bleiben, die Ruhr neben uns ist zu jenem breiten Fluss angeschwollen, der sich in Duisburg in den Rhein ergießen wird. Meine Gefühle hier sind schwer zu beschreiben. Irgendetwas von Rückkehr aus einem Urlaub,  Erwartung von etwas ganz Großem und einer riesigen Ungeduld. Das mit dem Laufen in der Gegenwart klappt hier nicht mehr. Ich sehne die Autobahnbrücke in Mintard herbei, den MüGa-Park in Mülheim, den Duisburger Hafen. Aber das ist jetzt so nah und bei meinem Tempo noch so weit weg.

André lässt mir keine Wahl, alle 500 Meter trabt er gnadenlos an, ich muss mit und darf erst gehen, wenn er stehen geblieben ist. Ich verfluche ihn und bin gleichzeitig so froh, dass er das hier für mich macht.  Endlich sind wir in Kettwig, laufen unter der Eisenbahnbrücke und die Uferpromenade bis zur Ruhrbrücke entlang. Hier wäre wieder laufen angesagt, ich setze eine Runde aus, weil es gerade der Brückenanstieg wäre, an dem ich anlaufen müsste. Mein Garmin hatte sich wieder verabschiedet, ich bin wieder voll und ganz auf Andres Uhr angewiesen. Hinter Kettwig haben wir die Ruhrauen erreicht, die auf Schotterwegen durchquert werden. Eine Truppe vom LC Duisburg kommt von hinten, es sind die 100 Kilometer-Läufer. Ich erkenne Marcus, Dirk und ihre Begleiter. Ist von hinten schwierig. Sie belügen mich, ich sähe noch gut aus. Ich lüge zurück und bestätige dies, auch die haben schon 70 und mehr Kilometer in den Beinen. Man sagt ja immer, die Brücke und damit der VP kämen nicht näher. Das kann ich nun nicht so bestätigen, ich fand sogar, dass die Ruhraue recht schnell vorbei war und wir Mintard erreichen. Leider geht es noch ein wenig bergan zum VP, das kostet wieder Körner, aber ich trabe tapfer meine 500 Meter. Irgendwie kriege ich die Füße kaum noch hoch, obwohl Markus mir mehrfach bestätigt, ich hätte noch eine „Flugphase“. Na ja, statt Flugphase fühle ich mich eher wie eine Dampfwalze. Aber egal, wir haben VP 207 erreicht. Ich mache die üblichen 8-10 Minuten Rast, bin aber dann erneut ungeduldig und möchte weiter. Mit Cola, Kaffee und irgendwelchem Gummi-Süßkram versehen traben wir wieder an, zwischen Bauernhöfen und Pferdekoppeln Richtung Ruhrdeich. Andre gibt wieder die 500 Meter vor, ich beschuldige ihn mehrfach der Manipulation, denn die 500 Meter traben scheinen immer länger und länger zu werden. Kurz vor dem Deich steht noch einmal der Bus. Es gibt gute Nachrichten von Claudia, sie scheint mit Michael und der 500/500 Meter-Taktik wieder anlaufen zu können. So motiviert geht es weiter, wir erreichen Mülheim und die Ruhrauen, laufen an der früheren Jugendherberge am Kahlenberg vorbei. Hier habe ich 1983 mit 15 tatsächlich eine Woche Ferienfreizeit mit unserer Kirchengemeinde verbracht. So kurz von Zuhause, aber das hatte uns gereicht. Wir waren mit unseren Freunden unter uns und hatten unseren Spaß. Mülheim war mit 15 genauso weit weg wie Winterberg. Ich werde dennoch immer langsamer, während wir zwischen Kleingärten daher traben. Ich rechne jetzt. Wir gewinnen durch das Traben höchstens 45 Sekunden pro Kilometer, wahrscheinlich eher 30. Ich werde irgendetwas um die 32 Stunden brauchen, das ist eine tolle Zeit. Das Anlaufen ist für mich jedes Mal eine zunehmende Quälerei, und es sind noch höchstens 15 Kilometer bis ins Ziel.  15 Kilometer mal 45 Sekunden, das sind etwa 10 Minuten. Lohnt es sich, sich dafür alle 500 Meter zu quälen? Spielt das eine Rolle? Mein rebellierender Geist gewinnt. Vielleicht wäre es besser, ich wäre schon in eine Lethargie verfallen und meiner ohnehin schmalen Rechenkünste verlustig geworden, aber das ist nun einmal nicht so. Ich teile André „offiziell“ mit, dass der Rest marschierend zurückgelegt wird. Denn dabei geht es mir relativ gut. Es tut mir leid für André, aber er ist der Begleiter, ich bin der Läufer. Oder Geher. Also Geher, ab hier. Am Schloss Broich wartet noch einmal der Bus auf uns. André’s Freund Volker wartet auf dem Rennrad auf uns und gratuliert schon mal zu den bewältigten Kilometern. Auch das tut gut, er war ja mit uns bei den Sixdays.  Auch Birgit taucht mit dem Rennrad auf und begleitet uns ab hier Richtung Duisburg. Kurz vor dem Wasserturm rezitiere ich noch einmal die „N’kosi sikelel‘ iAfrika“ – die Natonalhymne Südafrikas, die ich zum Two Oceans auswendig gelernt hatte. Der Geist ist also wirklich noch klar, wenn er die Strophen in isiZulu und isiXosa noch unfallfrei hinbekommt. Birgits zusätzliche Begleitung ist sehr gut, denn ich habe wieder etwas Neues zum Erzählen und anzuhören. Die Sonne ist herausgekommen und es wird warm in meiner Winterjacke. Aber der fiese kalte Wind ist spätestens auf dem Ruhrdeich wieder da. Es folgen zunächst die unangenehmen Stücke. Das MüGa-Gelände bis zum Wasserturm ist ja recht schön, danach geht es aber erst einmal durch Wohngebiete und entlang der A 40 an der Betonleitplanke. Hinter der Unterführung zum Stadion in Styrum wird mir schwindelig. 13227208_226981634340380_5554420011132746952_nIch muss mich kurz hinsetzen. Mehr fehlt schlichtweg Energie und mein Magen rebelliert auch schon wieder. Dennoch marschiere ich Kilometer um Kilometer weiter, Birgit und Markus auf dem Rad und André laufend an meiner Seite. Ab und zu kommen Läufer von hinten, das sind aber alles 100er. In einem Waldstück kurz vor der A3 muss ich nochmal in die Büsche. Das Resultat – ohne hier auf Details eingehen zu wollen – erklärt mir restlos meinen Zustand. Alles, was ich seit der Nacht zu mir genommen habe, hat mein Verdauungssystem nicht mehr angerührt, sondern einfach „durchgeschoben“. Unverarbeitet sozusagen. In Anlehnung an den Sketch von Otto Waalkes „Großhirn an Kleinhirn“ hieß es wohl „Großhirn an Blut – Verdauung einstellen und alles in die Beine, da ist Krise!“ Nun ja, nun ist die Krise endgültig in der Muskulatur angekommen. Ich bin   seit kurz nach Mitternacht nur noch auf „Flüssigkeit“ und etwas gezuckertem Haferschleim unterwegs. Wie dem auch sei, jetzt werden die Abschnitte wirklich kürzer und eine selten gekannte Euphorie ergreift Besitz von mir. Auch wenn ich noch ein oder zwei Schwindelanfälle bewältigen muss, im Grunde geht es mir gut. Die Kreislaufprobleme rühren von der in der Sonne zu warmen Kleidung. Schon sind wir in Meiderich am Rhein-Herne-Kanal, der hier in die Ruhr einmündet bzw. von ihr abzweigt. Ich marschiere, auch wenn ich inzwischen höllische Schmerzen in meinem rechten Bein verspüre. Die fingen so kurz vor 200 Kilometer an und nehmen leider  zu, das Fußgelenk oder das untere Schienbein scheinen die Übeltäter zu sein. Ich akzeptiere den Schmerz als etwas nach dieser Distanz unvermeidliches, dennoch tut es weh. Das kann ich nicht mehr ausblenden. Und es erhöht meine Ungeduld. Das lange Hafengebiet in Duisburg will nicht enden. Wie viele Kilometer mögen es sein? 3, 4 oder gar 5? Ich habe keine Idee. Dann sind wir endlich am Wehr in Duisburg. Mitten auf dem Wehr bleibe ich stehen. „Ich hab Dich, Du verdammter Fluss!“ So schreie ich in die das Wehr überströmenden Wasser. Dieser Fluss hat mich nicht geschafft. Ich ziehe die gelbe Windjacke aus und mein TorTour-Shört wieder über, den ich möchte stilecht einlaufen. Dann sehe ich Kim. Sie steht mit Ihrem Rad am anderen Ende des Wehrs. Während wir auf sie zu gehen, überholen mich Gaston und Martina Prüfer. Ich gratuliere den beiden 230er schon zum Finish und weiss , dass ich jetzt zwei Plätze nach hinten gereicht werde, aber das ist mir völlig egal. Ich bin hier so gut unterwegs, was sind da zwei Plätze. Und die beiden sehen noch so gut laufend aus, ich könnte sowieso nicht mithalten. Einen „Zielsprint“ im Schneckentempo fände ich deplatziert. Zuerst wundere ich mich, dass die gute Kim ihre Stimme wiedergefunden hat. Sie sieht wieder recht erholt aus, wir umarmen uns zuerst mal, dann geht es weiter. Die Crew wartet bereits am Orange bzw. am Gerüst. Ziel03Etwas Oranges soll aber auf uns warten… . André will immer schon anlaufen, für mich zieht sich die Strecke aber endlos und ich kann einfach noch nicht, so gerne ich ihm den Gefallen tun würde. Ohne ihn wäre ich bestimmt zwei Stunden weit von hier entfernt, das ist mir bewusst. So wie er mich auf Tempo gehalten hat. Hinter dem Karl-Lehr-Brückenzug geht es den Deich hinaus, die letzte Steigung dieses Laufes. Schon von weitem sehen ich Werner, Marco, Stefan Dirk, Anke und auch Anja, die gerade operiert stehen. Tanja und ihre Zwillinge sind auch da. Als ich sie erreicht habe, laufen wir an. Viele aus der Crew gemeinsam, ein ganz tolles Gefühl. Dann werde ich schneller, es geht den Deich hinunter in die Rheinwiesen. Ich sehe schon Jens und einige andere am Gerüst stehen, werde weiter schneller. Ziel21Im gefühlten Sprint schlage ich an eine Orange Kunststoffplatte an und setze mich erschöpft auf den Boden. Einen kurzen Moment droht ein neuer Heulkrampf, den kann ich aber unterdrücken. Sekunden für die Ewigkeit. Wie lange habe ich auf diesen Moment hin gefiebert? Ziel24 Ziel25Da ist er. Ich bin müde, lasse mir von Jens hochhelfen. Die Ehrung geht wie durch eine Wattewand über mich hinweg, Jens hängt mir den Aufnäher um. Das Buckle gibt es erst heute Abend im Hostel. Ich muss mich per Autogramm auf der Plastikwand verewigen, schreibe ein “TC“ dahinter und setze mich an einen Werkzeugbehälter. Einfach sitzen, die kleinen Freuden des Lebens. Und nie wieder aufstehen müssen. Meine Crew fotografiert um mich herum, alle haben glückliche Gesichter. Der Teil des Projektes ist geschafft. Ich fordere sie auf nun wieder im Bus zu Claudia zu fahren. Sie braucht nun jeden Support, ich bin ja da. Ich würde mich zunächst mit in den Bus begeben…..da beugt sich Marco zu mir hinab. „Claudia ist im Bus, sie ist raus“.

Ich erfahre, dass Claudia aussteigen musste
Ich erfahre, dass Claudia aussteigen musste

Gefühlschaos. Leere. Von Wolke 7 auf Paterre geplumpst. Es ist feinfühlig von der Crew, dass sie es mir nicht gesagt haben und mir diese 5 Minuten ungetrübten Triumpf gönnten. Aber durch meine Nachfrage musste es nun raus und ich bin froh, dass Marco so direkt war. 180 km, blaue Lippen, Zähneklappern und fast 90 Minuten für 6 Kilometer….das war die richtige Entscheidung. Der Weg zum Bus ist über einen Kilometer lang. Yvy und Petra kommen und finishen gerade ihren 100er, Yvy grinst über das ganze Gesicht. Auch ihr kann ich noch gratulieren, aber das geschieht irgendwie mechanisch. Ich bin in Gedanken bei Caludia.  Oben am Deich besorge ich mir Kims Rad, ich muss jetzt schnell zu Claudia an den Bus. Auf das Rad komme ich ganz gut, ich bin schnell da. Claudia liegt im Bus, zitternd in den Schlafsack eingedreht. Wir nehmen uns in den Arm und lassen erst einmal ein paar Tränen laufen. Da braucht es keine Worte, wir wissen, wie es uns beiden geht und respektieren da. Ich denke zurück an den Münster-Marathon 2010, wo ich Bestzeit lief und Claudia an den 4 Stunden scheiterte. Ich musste mich im Keller freuen. Das ist heute anders. Ich habe etwas tolles erreicht, Claudia auch, aber sie hat es halt nicht abschließen können. Da braucht der Stolz ein wenig, bis er die Enttäuschung besiegt. Wir verabreden, noch bevor die Crew am Bus ist, dass ich ins Hostel gehe, unser Bett in Empfang nehme und Claudia erst einmal zu Hause in die heiße Wanne muss. Ich denke, dass ihr Gespräche mit anderen Läufern am Abend gut täten. Werner bietet an, mich ins Hostel nach Oberhausen zu bringen, also packe ich nur meinen Hostel-Beutel und verabschiede mich schon wieder von meiner Frau. Meine Töchter sind zu Hause und werden sich kümmern, alleine hätte ich sie natürlich nicht zu Hause gelassen. Mir ist schon fast klar, dass sie nicht mehr nachkommen wird. Denn Sie schläft zu Hause sofort tief und fest. Ich hätte dasselbe getan, wir hätten uns nicht helfen können. Mir geht es genauso, als ich mich gegen 17:00 Uhr auf mein Etagenbett im Hostel gewuchtet habe. Ab 19:30 sitze ich dann wieder in der Gaststube mit all den anderen Läufern und Crews, wir erzählen von unseren Erlebnissen und applaudieren den noch eintreffenden Finishern. Viele haben es nicht geschafft, gut ein Drittel mußten die TorTour vorzeitig beenden.  Mein rechter Fuß ist dick. Der Schuh war zu eng geschnürt, Marathon-Schnürung halt. Das hat die Bänder und Sehnen oben am Spann gequetscht, als der Fuß dicker wurde. Das ist aber alles. Es braucht zwei Wochen, dann geht das wieder. Keine Blase, keine Druckstelle. Der ON Cruiser hat ganze Arbeit geleistet. Danke Marc Böhme, dass Du mir über ON damals diesen Schuh vermittelt hattest.  Danke ON, dass Ihr ihn mir aus Kulanz kostenlos zur Verfügung gestellt habt. Es ist ein toller Ultra-Schuh. Die 100 Meilen in Berlin, die 100 Kilometer am Seilersee und die 230 km bei der TorTour hat er mich getragen, ohne große Probleme zu machen. Wir werden Freunde, Firma ON und ich.

Am nächsten Morgen kommt Claudia dann zum Frühstück ins Hostel. Mit Mäx und seiner Crew sowie Sieger Olli haben wir noch nette Gespräche. Claudia sieht den angeschlagenen Jens, der allein im Hof auf einer Bank sitzt. Sie geht hinaus, setzt sich neben ihn. Er legt den Arm um meine Frau und die beiden besprechen irgendetwas. Ein schönes Bild. Es gab eine tolle Geste von Jens, auf die ich hier nicht eingehe. Wie ich sagte, die Chemie zwischen uns stimmt wohl, das gilt auch für Claudia. Jens und Ricarda haben hier auch enormes geleistet. Dieser Lauf nimmt Dich mit, auch Deine Crew und alle, die damit zu tun haben. Was es ist, ich weiß es immer noch nicht. Es hat irgendetwas mit dem Fluss zu tun. Mit dem Wasser, welches an Dir vorbei seinen ewigen Kreislauf von den Bergen ins Meer nimmt. Der Fluss nimmt Dir die Kraft und er gibt sie Dir auch wieder.

Ich gehöre jetzt dazu. Zur Hall of Fame der TTdR.Und der Blick auf die Ergebnisliste am nächsten Tag macht mich noch stolzer, den 19. Gesamtplatz von 97 Startern ist weitaus mehr, als ich als „Rookie“ erwarten konnte. Mein größter Wunsch, meine Frau vor dem Orange in die Arme nehmen zu dürfen, hat sich nicht erfüllt.

Is a dream a lie, if it dont’t come true, or is it something worse? That sends me down to the river though Iknow, the river is dry. Oh, down tot he river we’d just ride….13263952_1157586857614394_3570472532594002174_n

Diese Zeilen von Bruce Springsteen habe ich wieder im Kopf. Den Traum werden wir Claudia 2018 erfüllen. Das hat sie inzwischen beschlossen. Ich werde in anderer Form daran teilnehmen und unterstützen. Mit der Erfahrung von diesem Jahr wird es gelingen. Laufen werde ich diesen Kurs so schnell nicht noch einmal. Das stand für mich irgendwie auch sofort fest.

Ich bin allen Helfern und Unterstützern meiner Crew und des gesamten Laufes unendlich dankbar. Wir waren eine tolle Crew, jeder hat das gegeben, was er im Moment für das Beste hielt. Wenn es das nicht immer war, ist dies mangelnde Erfahrung von uns allen. Wir waren alle Ersttäter. Und dafür hat es sensationell geklappt.

Mir stehen noch in den Folgetagen Tränen in den Augen, wenn ich manche Posts auf Facebook lese. Es gibt niemanden, den dieser Lauf nicht berührt hat. Ohne Drama. Ohne viel  Tam Tam drum herum. Es ging einfach nur einen Fluss entlang.

Urkunde

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