WHEW 100 – Licht am Ende des Tunnels

„So’n Hunderter geht ja eigentlich immer!“ oder „Wann haben wir eigentlich die Kontrolle darüber verloren, 100 Kilometer zu laufen?“. Sätze wie diese – Kenner der Szene wissen, von wem sie stammen – klingen für Außenstehende vielleicht arrogant, sind aber nicht so gemeint und wer schon einmal den einen oder anderen absolviert hat, weiss, dass ein Körnchen Wahrheit drin steckt. Es ist halt vor allem Kopfsache, eine gewisse körperliche Grundfitness vorausgesetzt. An diese Sätze musste ich am Freitag abends auf der Couch mit Claudia denken, denn wir wollten am Samstag einen Hunderter laufen, Claudia war die 10 Tage vorher krank, mein Fuß tat nach Bergansprints bereits eine Woche weh und meine spezifische Vorbereitung bestand aus dem Hannover-Marathon und dem PUM, jenem Rendevous mit dem Piesberg, welches mit einen unfassbaren Muskelkater von 5 Tagen Dauer beschert hatte. Beste Vorraussetzungen also für uns beide.

Dabei hatte ich mir eine neue Bestzeit beim Hunderter – und hier insbesondere unter 10 Stunden – als letztes Ziel vornehmen wollen, was mir von meiner gesundheitlich verkorksten Marathonvorbereitung geblieben war. Irgendwie wollte ich noch enmal etwas erreichen.  Beim PUM am Piesberg hatte ich kurz Andreas Fölting gesprochen, über WHEW und eventuelle Zielzeiten. Meine Pace-Plan von 2018 für unter 10 Stunden stand ja noch, den wollte ich noch einmal versuchen. Wir schrieben in der Woche danach noch einmal kurz, dann war klar, dass wir es gemeinsam nach meinem Pace-Plan probieren wollten.

Denn wenn man eine 100 km-Lauf unter zehn Stunden laufen möchte, reicht es nicht, 6er Pace mit einem kurzen Endspurt zu kombinieren. Es müssen Zeiten zur Verpflegungsaufnahme und Zeiten für das Gegenteil einkalkuliert und herausgelaufen werden. Bein WHEW gilt es dazu, das tückische Höhenprofil zu beachten. Ganz grob geht es nach kurzem geraden Aufgalopp im ersten Drittel weitgehend bergab, im mittleren Drittel dann relativ gerade an der Ruhr entlang und im letzten Drittel erst eininmal leicht, aber endlos bergauf. Also gerade da, wo man wenig Reserven hat. Man darf es also nicht zu flott angehen und muss sich seine Körner gut einteilen. Mein Plan sah daher im ersten Teil eine 5:30er Pace vor, auf den kürzeren bergan-Stücken 6. Bergab Richtung Essen-Kettwig dann maximal 5:25, entlang der Ruhr dann 5:45. Dann könnte man die Trasse ab Hattigen mit 6:30er Pace bis zum Tunnel Schee, dem höchsten Punkt der Strecke, bewältigen und am Ende auf den letzten 10 km Nordbahn-Trasse, die leicht bergab und später bretteben verläuft, in 6er PAce zuende Laufen. Die Zeiten an den VP hatte ich mit anfangs 60 Sekunden, später 120, wenige mit 180 Sekunden geplant. Das waren Höchstverweilzeiten, die auch menschliche Bedürfnisse gegenteiliger Art einschlosssen. Scheinbar gefiel Andreas der Plan, uns so wollten wir es zusammen angehen. 10 Stunden alleine können sich ganz schön ziehen, zu zweit geht es einfach besser.

Graupelschauer, 1,5 Grad. Immerhun über Null….

Das Wetter verhieß leider nichts Gutes, war es in den letzten beiden Jahren Jahren , an denen Claudia und ich teilgenommen hatten, recht warm, war nun echtes Schmuddelwetter angesagt. Mit Yvy im Schlepptau fuhren wir kurz nach 5 Uhr am Morgen bei Regen und 4 Grad in Rheinberg los, auf der A 44 wurde es immer kälter, je näher Wuppertal kam und vor Ort am Mirker Bahnhof  in Elberfeld empfingen uns Graupelschauer und 1,5 Grad. Das konnte ja heiter werden!

Nach zu kurzem Genuss des für die Läufer kostenlosen opulenten Frühstücksbuffets ging es schon auf 7 Uhr Startzeit zu. Meine beiden Damen wollten noch die sanitären Anlegen begutachten, ich sah sie dann nicht mehr, als an den Start gerufen wurde. Andreas hatte ich beim Frühstück getroffen. Ich hatte für uns beide die Armbänder mit den Zeiten für jeden Kilometer gefertigt, wir klebten Sie auch Andreas an den Arm. So hatten wir immer Orientierung, wie wir im Plan lagen. Mir war klar, dass es zu Beginn nur ums Bremsen gehen konnte. Das Tempo würde mein Fuß nach den Trainingseindrücken der letzten Tage durchhalten, nur wie lange? Schon war der Startschuss ertönt und wir hatten schnell unsere Reisegeschwindigeit erreicht. Der Regen hatte kurz vorher aufgehört, saukalt war es dennoch. Wir trugen beide Handschuhe. Es geht zunächst ein ganzes Stück die Nordbahntrasse entlang, bretteben und glatt wie Omas gestärkte Tischdecke. Wirl lagen gut im Tempo, einzelne Kilometer vielleicht 5 Sekunden zu schnell, den nächsten dann aber wieder im Plan. Wir unterhielten uns gut, über Laufen, Familie, Gott und die Welt und es lief noch tiefenentspannt. An den gut bestückten VP am Ende der Trasse, dann in Düssel und auch noch in Wüfrath am Zeittunnel hielten wir uns nicht lange auf, hier sparten wir am meisten Zeit ein. Ich achte dennoch darauf, immer einen Schluck Iso oder Schorle zu nehmen, dann ein paar Kleinigkeiten wie Nüsse oder Apfelstücke zu mir zu nehmen, solange mein Magen das noch gut verarbeitet. Ich habe gute Erfahrung damit gemacht, immer von Beginn an Kleinigkeiten zu mir zu nehmen umd dem „Hungerast“ vorzubeugen. Meine beiden Gels würde ich mir für das Ende aufsparen, wenn ich kaufaul geworden bin und mir die Sachen schwerer im Magen zu liegen beginnen. Denn irgendwas muss man unterwegs zu sich nehmen.

Wir laufen so auf die 20 Kilometer-Marke zu, fühlen uns beide gut und erstmalig kam auch schon das eine oder andere Mal die Sonne raus. Kalt war es trotzdem noch, aber zum Laufen im Grunde nicht schlecht. Wir sprachen auch darüber, dass man sich ja nicht sagt „jetzt noch 80 km“, sondern dass es wichtig ist, sich im Hier und Jetzt zu bewegen. Gerade ging es uns gut, das Wetter passte einigermaßen und die Strecke war wirklich schön. Das war jetzt das wichtigste. Und mein Fuß muckte auch noch nicht.  Der lange, allmähliche Aufstieg nach Velbert lag fast hinter uns, ab da würde es bis hinunter zur Ruhr dann nur noch bergab gehen. Halbmarathon knapp unter zwei Stunden, nicht zu schnell und sehr gut im Plan. Es lief bei uns beiden.

Dann ging es über die Trasse der alten Niederbergbahn hinunter an die Ruhr. Über herrliche Viadukte mit bestem Blick über die Nebentäler des Niederbergschen Landes, durch den frisch ergrünten Wald. Hier hatte ich mit Martin im Vorjahr zu schnell „laufen lassen“, das hatte meinen alten Knochen nicht gut getan. Hier hatten wir auch wieder zwei Kilometer um die 5:16er Pace (geplant war 5:25), immer wieder bremsten wir uns aber gegenseitig herunter. Zu diesem Zeitpunkt wichtig.

Wenn sich links die noch im Betrieb befindlichen Gleise der S6 nähern weiß man, dass die Bergablauferei gleich beendet sein wird und es nach Kettwig geht. Denn auch die Niederbergbahntrasse führte über die Kettwiger Eisenbahnbrücke.

Nächste Station ist der VP bei Kilometer 40 am Kettwiger Ruderclub, danach dann die Marathonmarke. Die Sonne schien, ich zog mir sogar die Regenjacke aus und verstaute sie im Trinkgürtel. Dann ging es weiter, flach den Ruhrtal-Radweg entlang. Die Dejavues der TorTour, bei der man hier etwa 200 Kilometer absolviert hat. Soweit war Andreas beim letzten Mal nicht mehr gekommen, sein „Schicksalspunkt“ würde bald kommen, wie er mir erzählte. Immer noch mussten wir uns bremsen, um nicht viel schneller als die nun geplanten 5:45 pro Kiometer zu laufen. Die imaginäre Marathon-Marke passierten wir knapp unter 4 Stunden. Die 5 Kilometer von Kettwig zur Werdener Ruhrbrücke ziehen sich immer ein wenig, diesmal aber irgendwie nicht. Schnell waren wir am Steilen Anstieg am S-Bahnhof Werden, dort merkten wir beide massiv unsere Oberschenkelmuskulatur. Schönen Gruß vom Bergablauf! Auf der Brücke kam mir schon Trainer Roman mit der schnellen Truppe von Laufsport Bunerts Lauftreff am See entgegen. Die ersten Grüße wechselten die Straßenseite, ab hier würden uns erst einmal regelmäßig bekannte Gesichter entgegen kommen. Das motiviert ja schon irgendwie. Die Strecke am Baldeneysee ist mir ja von den vielen samstäglichen Trainingsläufen bestens bekante aber nt. So spulten wir auch die nächsten 5 Kilometer bis Haus Scheppen und zur 50er-Matte kurz dahinter gewohnt ab. Hier glaubte ich allerdings schon so langsam, meinen rechten Fuß zu spüren. Nicht darüber nachdenken, irgendwie war mir ja klar, dass das kommen musste. Es hätte nur noch einwenig damit warten können. Ich merkte aber nun, nach 50 Kilometern, auch, dass Bremsen nun langsam nicht mehr nötig war. Auch wenn der eine Kilometer in 6er Pace nun dadurch geschuldet war, dass Andreas seine Schicksalsbank, an der für ihn im letzten Jahr die TorTour de Ruhr beendet war, noch einmal antesten musste und ich ein Foto von ihm schoss. Soviel Zeit musste sein und die hatten wir auch am VP bereits wieder eingespart. Als wir die alte Eisenbahnbrücke (von uns wegen Ihrer Holzbeplankung auch „Holzbrücke“ genannt) von Kupferdreh erreichten, war bereits ein latenter Schmerz am Knochen bei mir zu spüren. Der kurze steile Anstieg zur Brücke verstärkte den Schmerz, der irgendwie nicht nachließ, als wir den Baldeneysee überquerten. Kurz vor der Baustelle Kampmannbrücke, die uns zu einer Umleitung links einen Anstieg hinauf zwang, passierte es wieder. Beim Berganmarschieren schoss mir der Schmerz bis kurz unters Knie durch den Schiienbeinknochen und wurde beim Wiederanlaufen nicht besser. Kurioserweise war das fast gena die Stelle, wo mir im letten Jahr meine Hüfte einen Strich durch die 10-Stunden- Rechnung gemacht hatte. Schein nicht mein Kilometer zu sein. Ich lief versuchsweise deutlich langsamer, der Schmerz ließ etwas nach. Dann wieder im Plantempo, der Schmerz nahm rasant wieder zu. Das war es für mich, das war mir hier klar. Km 53, Plan Sub 10 Stunden konnte wohl zu den Akten. Andreas war einige Meter vor mir, ich wünschte ihm Glück und schckte ihn weg. „Lauf, mein Fuß meutert. ich muss jetzt Tempo herausnehmen!“ rief ich hinterher und war allein. So schnell geht das also. Vor 3 Kilometern noch super im Plan und guter Dinge. 3 Kilometer und einen kurzen Hagelschauer später alles im wahrsten Sinne des Wortes „verhagelt“. Ich wollte natürlich nichts nachhaltig riskieren und musste nun meinen Schmerz in seiner Entwicklung beobachten. Was ging noch, was  nicht. Auch ein Ausstieg war für mich nun jederzet denkbar, denn ich wollte mich nicht zu vielen Wochen Pause zwingen. Ende Mai geht es nach Zakopane zum Traillaufen, das will ich natürlich ebensowenig riskieren wie mein Training für die 171 km beim Kölnpfad Ende Juni. Es ging nun vorbei an Essen-Heisingen in die Heisinger Ruhraue. Ich lief langsamer, sogar noch wieder im Pace-Plan, aber schnell begann der Schmerz wieder zuzunhemen. Also wieder Gehpause. Komischerweise war mit einem Moment auch meine Motivation geschwunden. Die Erwartung, irgendwann sowieso aussteigen zu müssen im Kopf fiel mir das Laufen immer schwerer. Die Brücke in der Ruhraue mit ihrem Anstieg verstärkte den Scherz wieder und zwang mich wieder zu längerer Gehpause. Der eine oder andere Läufer kam vorbei. Wie üblich unter Ultras wurde gefragt, was los sei. Fast jeder bot mir ein Scherzmittel an. „Ich habe Ibu400 dabei“ und ähnliche Worte hörte ich mehrfach. Aber das ist für mich kein Thema. Schmerz ist ein Warnsignal. Was nützt es mir, wenn ich den heute ausschalte, ankomme und morgen ein tischtennisball großes Ödem am Schienbein habe? Nein, Medikamente zur Schmerzunterdrückung sind für mich beim Laufen Tabu. ich verurteile keinen, der sie nimmt, aber für mich ist das ein No-Go. Jetzt ist da snicht der erste Utra, bei dem ich das eine oder andere Problem bekomme und aus der Ruhe bringt mich das noch nicht wirklich, zumal ich damit hatte rechnen müssen und auch gerechne hatte. Zunächst wollte ich ich von VP zu VP vorarbeiten und situatibv weitersehen. Ärgern ist jetzt der falsche Ratgeber, die Dinge sind wie sie sind und irgendwie kriege ich 45 Kilometer in der Regel auch um. Auch am VP an der Bar Celona in Steele hielt ich mich nicht lange auf, bei meinen Gehpausen würde ich noch Zeit genug verlieren. Leider wurde es zunächst schlechter, so manches Anlaufen musste ich bereits nach drei Schritten wieder einstellen, weil der Schmerz sofort wieder hoch in den Knochen zog. Gleichzeitig fiel mir aber auch das Laufen immer schwerer. Nun kam auch das Lange Ruhrufer zwischen Essen-Steele und Hattigen. 11 relativ gleichförmige Kilometer, die für mich schwer werden würden. Am „bunten Strommast“ ging es nach der Ruhrquerung los. Schwere Beine, zweihundert Meter laufen, schon ertappe ich mich dabei, dass ich auf den Schmerz warte, um wieder gehen zu dürfen. Irgendwie ist das ja auch klar. Mir fehlen die langen Läufe und ich wollte einen Hunderter ambitioniert laufen. Das konnte ja nicht gut gehen. Ich schleppe mich weiter, versuche mich zunächst, auf die Durchschnittspace pro Runde zu konzentrieren. Unter 6:30 halten, dann zumindest eine 6 vor dem Doppelpunkt halten. Man wird zunehmend bescheiden. Ein Soundbiker mit einem Begleiter auf dem Rennrad fahren vorbei. Diese Soundbikes sollen die Läufer unterwegs mit großen Musikboxen ein wenig bespaßen. Während aber irgendwie niemals einer länger neben mir her fährt, hält der Rennradler von beiden kurz inne und unterhält sich mit mir. „Mir ist schleierhaft, wie man überhaupt mehr als 5 Kilometer laufen kann“ sagt er etwa bei Kilometer 64 zu mir, ehe er weiter fährt. Ich bin nun relativ entschlossen, zumindest bis Hattigen bei Kilometer 73 zu laufen. Das mit der Uhr und der Pace war nichts, ich werde dabei zunehmend bescheidener. Also versuche ich mir Punkte vorzunehmen, bis zu denen ich laufen will. Die Bank, der Baum, der Pfahl dahinten. Das geht nicht so recht. Immer wieder muss oder will ich früher aufhören. Im Moment ist es eher der Wille als der Schmerz. Langstrecken-Depression oder so. Eine Fahne zeigt Kilometer 65 an. 6:13 Stunden bin ich unterwegs. Na ja, 35 Kilometer gehen wären nochmal etwa 7 1/2 Stunden. Noch unter 14 Stunden, geht also. Und hatte mir der Soundbiker nicht gesagt, ich wäre noch im vorderen Sechstel? So viele sind jetzt noch  nicht an mir vorbei. Also weiter gehend, laufend, gehend. Vorbei an der ersten alten Ruhrschleuse, die ich schon für die zweite von weitem gehalten hatte, hinter der sich der nächste VP befinden musste. Immer weiter, kurz laufen, Schmerz oder keine Lust, weiter marschieren. Auf die Pace schaue ich nicht mehr. Zumindest wird der Schmerz nicht schlimmer, ein Finish könnte also doch im Bereich des Möglihen liegen. Mit Blick auf die 171 Kilometer beim Kölnpfad zwinge ich mich zur weiteren Fortbewegung. Am VP setze ich mich erste einmal auf den Klappstuhl. Die halbe „Hölle an der Ruhr“ liegt schon hinter mir. Anke Libuda, selbst eine Top-Ultraläuferin kümmert sich super um mich, reicht mir alles, was ich möchte. Ich blieb die zweieinhalb angesetzten Minuten, Jens Tekhaus kam mit seiner Truppe an. Die sind auch ganz gut und immer noch hinter mir, immerhin sind nun zwei Drittel der Strecke geschafft. Mit einem Stück Streuselkuchen in der Hand marschierte ich wieder los. Streuselkuchen…den gibt es immer bei Beerdigungen. Ich muss innerlich schmunzeln, da ich gerade mein letztes Saisonziel beerdigen musste. Scheinbar nicht mein Jahr. Ich begann, mir aber wieder Ziele zu setzen, während Floß-Ausflügler neben mir mehr oder weniger alkoholisiert die Ruhr neben mir flussab trieben. Die Bank dahinten, das Schild da vorne. Und ich hielt es mal wieder durch. Erst spät, nachdem der Weg das erste Mal das Ruhrufer verlässt, kam Jens und seine Truppe von hinten. Sooo langsam war ich scheinbar in meinem Geh-Lauf-Wechsel doch nicht. Kurz lief ich mit ihnen über, aber der Schmerz zwang mich dann doch wieder zu Gehen. Zum VP nach Hattingen an einem Sportplatz ging es zunächst wieder leicht bergauf, hier wurde ohnehin marschiert. Und dann, auf der Trasse der Kohlenbahn mit ihren 2% Steigung permanent über gut 15 Kilometer würde es eh nicht viel mit Laufen werden. Aber ich hatte mich durch die „Hölle an der Ruhr“ durchgeackert, mein Schmerz war zumindest nicht schlimmer geworden und es waren nur noch 27 Kilometer. Sollte ich hier raus oder nicht? Da ich ziemlich alleine am VP ankam, aß ich nur kurz zwei Apfelstücke, füllte mein Iso in der Gürtelflasche nach und marschierte mit etwas Fruchtgummi sofort weiter, ehe ich auf dumme Gedanken kommen konnte. Claudia hatte geschrieben, dass sie massive Piriformis-Probleme hatte. Auf sie warte wäre also keine Alternative, zumal es zugig wurde, sobald man stehenblieb. Also weiter, durch eine Wohnsiedlung bergan Richtung Tunnel Schulenberg, der die Kohlenbahtrasse einleitete. So ein Tunnel über gut 450 Meter hat ja seine Längen, ich lief ihn einmal durch, denn es zog wie Hechtsuppe da drin. Irgendwie sah der Anstieg zu meinem Entsetzen gar nicht nach Anstieg aus, die zwei Prozent sieht man wirklich kaum. Ich suchte mir irgendwelche Punkte, zunächst einen Baum, ein Brückengeländer. Bis dahin wurde gelaufen, anschließend marschiert. Dann bemerkte ich die gelben Pfähle, die eine wohl neben der Trasse verlaufenden Gasleitung markieren. Also war die Taktik klar. Gelber Pfahl = laufen bis zum nächsten, dann marschieren und so weiter. Die Kohlenbahntrasse ist wunderschön, verläuft von Hattingen über Sprockhövel zur Nordbahntrasse bei Oberbarmen. Leider auch wunderschön eintönig. Ab und an ein schöner Panoramablick nach rechts oder links, hauptsächlich eber ein bewaldeter Geländeeinschnitt, der Kilometer um Kilometer gelich aussieht und ansteigt. Trotzdem nähere ich mich der Marke, ab der nur noch ein Halbmarathon zu laufen ist. Kurz danach muss der VP in Sprockhövel kommen. Ich überhole erstmals wieder einzelne Läufer, die hier nur noch gehen. Sogar einen laufenden überhole ich, denn wenn ich nicht marschiere, laufe ich deutlich schneller als er. Nur bei einem Kilometer Anstieg hatte ich eine Sieben auf der Uhr stehen, ansonsten immer eine Sechs. Die gelben Pfähle funktionieren. Als noch ein Halbmarathon zu laufen ist, bin ich noch unter 7 1/2 Stunden unterwegs. Drei Stunden höchstens dafür, das wären immer noch 10 1/2 Stunden und zumindest besser als im letzten Jahr, wo Martin und ich in 10:54 einliefen. Zumindest ein kleines Trostpflaster. Darum halte ich mich auch am VP in Sprockhövel nicht lange auf. Ich lasse wieder mein Trinkfläschchen auffüllen, esse etwas Apfel und mache, dass ich fort komme. Nächster Halt VP am Bahnhof Schee, ab da würde es nur noch leicht bergab oder gerade führen. Das st das erste Mal, dass mich irgendwie eine Zeit wieder motiviert. Mein Fuß schmerzt irgendwie nicht mehr, das Gehen und Laufen, quasi die Galloway-Taktik, hat also meine Pace immer noch auf vertretbare Niveau gehalten. Die Strecke zum Bahnhof Schee vergeht recht schnell, trotz einer neuen Umleitung mit zusätzlichen Höhenmetern an einer Baustelle in Sprockhövel. „So’n Hunderter geht ja eigentlich immer“, der dumme Spruch scheint für mich zu passen. Unter 11 Stunden ist immer noch recht passabel bei 450 Höhenmetern. Zwei Mal laufen jetzt Gelegenheitsjogger ein Stück mit mir mit und befragen mich nach dem Wettkampf, der hier gerade stattfindet. Auch das lenkt wieder ab und motiviert, denn schneller als ich sind die beide nicht. Nur mit dem Unterschied, dass die 5 bis 8 kilometer laufen und ich schon 85 in den Beinen haben. Das gehen scheint meinem Fuß wirklich gut getan zu haben, am Bahnhof Schee bei Kilometer 88 merke ich ihn objektiv betrachtet zwar noch, aber es ist kein Schmerz, eher ein leichter Druck. Damit will ich leben. Am VP rauscht eine Frau vorbei, sie ist wohl die Drittplatzierte.  Ich laufe hinterher. Es geht um den alten Bahnhof herum wieder auf die Trasse, dann noch etwa 600 Meter bis zum Tunnelportal. Das linke ist zugemauert. Hier wurde zum Ende des Zeiten Weltkrieges die Messerschmidt 262, der erste einsatztauliche Düsenjäger, von Zwangsarbeitern zusammenmontiert, während rechts die Tüge durchfuhren und den Transport erledigten. Der Tonnel ist etwa 850 Meter lang, drinnen ist es ziemlich dunkel. Ich will druchlaufen. So weit war ich nicht mehr am Stück gelaufen, seit ich Andreas wegschicken musste. Ob ich das schaffen würde? Vor dem Tunnel ging ich vorsichtshalber nochmal zweihundert Meter, dann tauchte ich in die dunkle Röhre. GPS kann man vergessen hier drin. Ich lief. Man kann das Tunnelende nicht sehen, die Beleuchtung ist hier sehr spärlich an der Decke angebracht. Nur jede dritte Lampe ist in Betrieb. Weiter vorne höre ich die dritte Frau, der Schall hallt hier weit nach hinten. Irgendwie ist es unwirklich. Aber ich laufe. Und laufe. Und es schmerzt nicht. Und ich laufe weiter. Endlich ein Lichtschein an der linken Tunnelwand, das ist die Kurve am Tunnelausgang. Und dann sprichwörtlich das „Licht am Ende des Tunnels“. Die Frau ist gerade 100 Meter vor mir bereits draußen, das Sonnenlicht scheint gleißend auf ihr neongelbes Oberteil. Auch ich bin draussen, gerade scheint die Sonne und ich muss etwas blinzeln. Und die Trasse fällt hier tatsächlich leicht ab. Und ich laufe immer noch. Warum soll ich jetzt gehen? Ich sehe auf meine Uhr. Knapp 9:1o Stunden. 10:10 wäre eine neue Bestzeit auf 100 km , die alte stammte noch von meinem Debüt 2013 in Biel mit 10:11. Das wäre 6er Pace. Hört sich jetzt locker an, aber würde das gehen? Ich denke nicht darüber nach und beschließe, den nächsten Kilometer abzuwarten. 5:49 zeigt er mir an. Noch 9. Die Frau habe ich eingeholt. Ich kenne mich. Mit 10:30 wäre ich zufrieden gewesen, aber ich würde es mir nicht verzeihen, es jetzt nicht versucht zu haben. 6er Pace war der Plan gewesen für diese letzten 10 Kilometer. Also los. Ich ließ es rollen, das leichte Gefälle half dabei. Ich war allein, aber ich lief. Das Bild vom licht am Ende des Tunnels ließ mich nicht los, für mich war es ein Zeichen. Und es rollte immer besser. 5:33, 5:37 auf den Kilometer. Die 6er Pace konnte ich nun schon überschreiten bis zur Bestzeit. Ich werde irgendwie euphorisch. Kein gedanke mehr ans Marschieren. Ich bin irgendwie hier schon stolz, mich bis hierher gekämpft zu haben und nun wieder mit solchen Aussichten belohnt zu werden. Du kannst beim Ultra „tot“ sein, aber Du kannst auch grandios wiederkommen. Letzteres scheint gerade zu passieren. Ich habe 8 Kilometer vor dem Ziel mein gel getrunken, den VP 7 Kilometer vor dem Ziel nehme ich „im Vorbeilaufen“, nur eben eine Cola, 10 Sekunden angehalten und weiter geht es. Hier ist die Trasse ein wenig unterbrochen, wir müssen kurz über den Bürgersteig und eine Fußgängerampel. Die ist rot, neben mir steht ein Läufer mit seiner Freundin als Radbegleitung, mit dem wir zu Beginn ein wenig gemeinsam gelaufen waren Auch er hatte irgendwo die 10 Stunden auf dem Schirm gehabt. „Sollen wir jetzt etwas wahnsinniges versuchen?“ Frage ich ihn. „Etwas über 4er Pace, und die zehn Stunden…..“ Gut, dass die Ampel schenll grün wird und er dankend ablehnt. Ich laufe vorbei und weiter. 5:25, 5:28, 5:32. Noch drei Kilometer. Und ich kann es. ich muss nicht langsamer werden. Die Bestzeit ist nahezu sicher. Eine Läuferin und mehrere Läufer überhole ich, nein, ich lasse sie stehen. Ob es Staffeln, Run & Biker oder Einzelläufer sind weiß ich nicht, ist auch egal. 5:29, 5:22. es bleibt tatsächlich Zeit für ein Selfie bei Kilometer 99. Man, bin ich glücklich. Aus tiefschwarzer Nacht aufgetaucht ins Licht, besser hätte man mir kein Zeichen schicken können. Am Ende des Tunnels. Trotz Selfie laufe ich den letzten Kilometer in 5:34, 5:02er Pace in Bewegung. Dann noch etwa 200 Meter GPS-Ungenauigkeit bis zum Ziel, ich sehe das Zirkuszelt der Utopiastadt und sehe den Sparkassen-Zielbogen. Ich ziehe die Regenjacke aus, erhöhe nochmal das Tempo und schreie bereits hier meine Freude heraus. „Jaaaa, jaaaa, jaaa!“ Ich bin wohl von weitem zu hören. 4:09er Pace auf den letzten 200 Metern, unfassbares Glücksgefühl, Sonne, Freude, Ziel. Ich gehe gleich auf die Knie, wie einst in Franfurt bei der Marathon Bestzeit hämmern meine Fäuste auf dem Boden. Gaby kommt und hängt mir gleich die Medaille um. 10:05:24 h zeigt meine Garmin. Fast 6 Minuten verbessert gegenüber meinem ersten Hunderter. Und vor allem: Einen verloren geglaubten Lauf ganz allein gerettet, am Ende wirklich in einen Rausch gelaufen. Das ist es , was mich am meisten freute. Meinen Fuß spürte ich gar nicht, Adrenalin ist wohl das beste Schmerzmittel. Hoffentlich rächte sich das nicht. Schnell zog ich die Jacke wieder über, das erste alkoholfreie Bier hatte ich mir wohl doch noch verdient und es schmeckte einwandfrei. Claudia hatte geschrieben, dass sie in Hattingen ausgestiegen war und gleich da sein würde, sie hatte eine Mitfahrgelegenheit gefunden. Schade, aber vernünftig. Yvy war mit der Truppe um Betty weitergelaufen und sollte nach knapp 14 Stunden mit ihnen gemeinsam ins Ziel kommen. Claudia hatte nichts riskiert und das war richtig.

Wenn ich nun darüber nachdenke habe ich es geschafft, weil ich unterwegs niemals irgendein Ziel aus den Augen verloren hatte. War es zunächst „nur bis Hattingen, dann war es mit 73 km ein guter langer Trainingslauf für den Kölnpfad“ über „Gaspfostenlaufen“, „Besser als letztes Jahr“ bis hin zur „Bestzeit jetzt möglich“ habe ich mich immer auf irgendetwas konzentriert. Auch alleine und ohne Musik auf den Ohren ist mir die Zeit nicht lang geworden mit meiner Fokussierung. Also auch gutes Kopftraining. Und die harten Tempoeinheiten im Januar und Februar bis zu meiner Erkrankung waren halt nicht umsonst. Dieses Tempo, das ich am Ende laufen konnte und musste, kann man nach 95 Kilometern nur mit der dort antrainierten Tempohärte. Auch das macht mich stolz. Es war so schöner, als wenn ich mit Andreas problemlos in 9:53 eingelaufe wäre. Nur die Zeit, für die Du wirklich kämpfen musstest, weiss man wirklich zu schätzen.

Ach ja, Andreas hat „unseren Lauf“ in einer fantastischen Bestzeit von 9:41 beendet. Wir trafen uns in der Umkleidekabine, er hatte so schnell noch nicht mir mir gerechnet. So gab es für uns beide etwas zu feiern.

Ein toller Lauf, eine tolle Erfahrung reicher. Was sind da 6 Minuten auf 100 Kilometer? Die 10 Stunden werden irgendwann noch gehen, wenn ich das irgendwann einmal wieder wirklich möchte.

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