Praxistipps von Dr. Michele Ufer, Sportpsychologe und Extremläufer
Im Juni 2014 schaute fast die ganze Welt nach Südamerika, denn in Brasilien fand die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Die Spieler, deren Trainer und Betreuer sowie die Medien hatten aufgrund der mitunter großen Hitze und hohen Luftfeuchtigkeit bereits im Vorfeld intensiv über den Umgang mit den äußerst schwierigen klimatischen Bedingungen diskutiert. Aber es geht noch knackiger. Zeitgleich und größtenteils unter Ausschluss der öffentlichen Wahrnehmung ging in der Nähe eine kleine Gruppe von Sportlern im Amazonas-Regenwald an den Start eines extremen Wettkampfes. Beim Jungle Ultra, einem sechstägigen Ultramarathon-Rennen über eine Strecke von 250 Kilometer, mussten die Athleten nicht nur schwierigstes Gelände laufend, kletternd und schwimmend bewältigen, sondern dabei auch noch ihre komplette Ausrüstung von rund zehn Kilogramm während des Rennens selbst transportieren. Nach den täglichen Etappen von bis zu 80 Kilometern wurde unter freiem Himmel in Hängematten übernachtet, bevor es am nächsten Tag bei rund 40°C und 100% Luftfeuchtigkeit weiterging. Jeder dieser Läufer absolvierte an einem einzigen langen Wettkampftag fast so viele Kilometer wie eine komplette Fußballmannschaft zusammen. Während die Fußballer bei den Spielen und in den Pausen quasi rund um die Uhr gepflegt und versorgt wurden, sah das bei den Läufern gänzlich anders aus. Externe Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Herausforderung gab es so gut wie keine und über die Hitze hatte sich kaum jemand beklagt.
Was können „normale Sportler“ von Extremsportler über den Umgang mit großer Hitze lernen?
Wir alle wissen und erleben immer wieder, dass Menschen auf identische situative Anforderungen oftmals völlig unterschiedlich reagieren. Aus diesem Grund unterscheiden wir zwischen Belastung und Beanspruchung. Unter Belastung ist die situative Herausforderung zu verstehen, die objektiv für alle gleich ist (zum Beispiel der Wettkampf bei 40°C). Unter Beanspruchung verstehen wir die individuellen physiologischen, biochemischen und psychologischen Reaktionen eines Menschen auf die konkrete äußere Belastung.
Die Kreislauf-, Atmungs-, Thermoregulation sowie der Muskelstoffwechsel hängen natürlich einerseits vom Trainings- und allgemeinen Gesundheitszustand ab. Sie können sich bei gleicher Belastung und gleichem Trainingszustand dennoch erheblich unterscheiden und zu individuell unterschiedlichen Beanspruchungen führen. Unstrittig ist, dass die Beanspruchung untrennbar mit mentalen und emotionalen Faktoren verbunden ist. Nervosität und Angst führen z. B. immer auch zu einem Anstieg der Herzfrequenz, verringerter Atemtiefe, vermehrten Schweißproduktion, verändertem Muskeltonus.
Aber gilt das auch für die Thermoregulation, das Temperaturempfinden, und können wir diese womöglich sogar gezielt steuern?
Temperaturregulation steuern: von Extremsportlern lernen
Kennst du den Eismann? Ich meine jetzt weder den Italiener um die Ecke, wo du dir im Sommer zur Erfrischung ein leckeres Spaghetti-Eis gönnst, noch diesen Tiefkühlkost-Lieferanten, sondern den Extremsportler Wim Hof. Dieser ist fähig, durch den Einsatz von Konzentrations- bzw. Meditationstechniken seine Körpertemperatur auch unter extremen Bedingungen zu kontrollieren. Er entwickelt eine schier unvorstellbare Ausdauer zum Verweilen in lebensfeindlicher Kälte und schafft Dinge, die normalerweise für den Menschen innerhalb kürzester Zeit den Tod bedeuten würden. Er taucht zum Beispiel im arktischen Winter nackt eine Strecke von 80 m unter einer Eisscholle her oder hält es über eine Stunde lang gefangen in einem großen Eiswürfel aus.
Eine Untersuchung an der Universität von Minnesota hat ergeben, dass Wim Hof über keine besonderen körperlichen Voraussetzungen verfügt. Seine außergewöhnlichen Leistungen sind auf eine besondere Konzentrationstechnik zurückzuführen: dem sogenannten Tummo. Es handelt sich hierbei um eine buddhistische Meditationspraxis, die die kontrollierte Erhöhung der Körpertemperatur zum Ziel hat, um bewusst Energie von innen nach außen zu lenken und dadurch negative Gedanken, Stressoren etc. durch „Verbrennen“ zu tilgen. Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die temperaturregulativen Effekte des Tummo und erklären dies damit, dass die Praktiker gelernt haben, innere Körpervorgänge besser wahrzunehmen und dann gezielt zu beeinflussen (Benson et al., 1982; Lutz et al., 2007). Geht das auch in die andere Richtung?
Wenn es möglich ist, durch die Lenkung der Aufmerksamkeit die Körpertemperatur zu erhöhen, dann sollte auch die umgekehrte Richtung funktionieren: bei großer Hitze für mehr Frische im Körper zu sorgen. Genau das war eines der Ziele, die ich selbst im Rahmen der mentalen Vorbereitung auf diverse Ultramarathons in der Wüste bei bis zu 54°C verfolgt hatte.
Exkurs: Zitronenexperiment: Du kennst wahrscheinlich das berühmte Zitronenexperiment. Stelle dir möglichst intensiv vor, wie du eine frische, geschälte Zitrone in der Hand hältst, wie du sie bereits riechst. Und dann stelle dir vor, wie sich deine Hand mit der Zitrone Richtung Mund bewegt und du beherzt in die Zitrone beißt, sich die Zähne tief ins Fruchtfleisch bohren. Sehr wahrscheinlich führt diese Vorstellung auch bei dir zu unmittelbaren körperlichen Reaktionen. Bei dem einen verzieht sich das Gesicht, beim anderen wird der Speichelfluss angeregt, etc. Diese Wirkung innerer Bilder auf den Körper können wir im Rahmen mentaler Trainingsprogramme gezielt nutzen, um Herausforderungen besser zu bewältigen.
Video: Ausdauertraining inkl. Vortrag in der Sauna
Wenn man stundenlang durch die Wüstensonne laufen muss, kann die Temperaturregulation zu einem entscheidenden Puzzle-Teil bei der Leistungsoptimierung werden. Aus diesem Grund habe ich vor und während meiner Wettkämpfe u.a. mit inneren Bildern und damit verbundenen Gefühlen gearbeitet, die helfen, das Temperaturempfinden zieldienlich zu kontrollieren. Das intensive Hineinversetzen in bestimmte Vorstellungen von Frische oder Kälte schafft dann trotz äußerer Hitze (Belastung) in den anvisierten Körperregionen, z.B. in den Füßen und Beinen, die entsprechende Reaktion bzw. Wahrnehmung (Beanspruchung). Das kann zum Beispiel die Vorstellung von einem Eisbecken sein, durch das ich watsche. Wie das genau funktionieren kann, habe ich in meinem Buch Mentaltraining für Läufer. Weil Laufen auch Kopfsache ist erläutert. Die dort vorgestellten Strategien haben sich über den reinen Laufsport hinaus in anderen Sportarten und selbst im beruflichen Kontext außerhalb des Sports bewährt.
Fußballer brauchen Konzentrationsroutinen
Nun können Fußballer nicht über den Platz rennen und während des Spiels intensiv an irgendwelche erfrischenden Bilder denken. Das würde zu sehr ablenken. Aber es ist möglich, im Vorfeld Konzentrationsroutinen und Visualisierungen zu entwickeln und den Athleten so zu konditionieren, dass die Aktivierung der regulativen Prozesse und Gefühle von Frische von allein, d.h. wie auf Autopilot stattfindet. Das kann man lernen. Es ist eine Frage des Trainings, des mentalen Trainings.
Ziemlich spooky? Nein! Die Immunisierung gegen die Umgebungstemperatur ist kein heißer Geheimtipp, sondern eine Jahrtausende alte Kulturtechnik. Der typische Deutsche jammert ja gern, meistens ist ihm zu heiß oder zu kalt. Und mir scheint, das gilt auch für die Sport treibende Zunft. Ab jetzt gibt es aber keinen Grund mehr zu Jammern: wie wir gesehen haben, hast du es selbst in der Hand. Mach das Beste draus.