Die Woche nach dem Malheur beim Training wurde schwierig. Zum üblichen Vorurlaubsstress im Büro gesellte sich der persönliche Stress. Würden gut zwei Wochen reichen, um zumindest laufen zu können? Das ich mich von sportlichen Zielen verabschieden musste, war mir ja sowieso klar. Aber zumindest den Lauf schaffen zu können, ohne mich für das weitere Projekt TorTour kaputt zu laufen, dafür würde ich etwas tun müssen. Aber es blieben nur 4 Arbeitstage bis zur Abreise. Freitag im Büro stellte sich heraus, dass ein Verwandter einer Kollegin Orthopäde und Sportmediziner war, sie besorgte mir als Kassenpatient noch einen Termin für den Montagabend. Dort hatte ich zumindest die Hoffnung, noch eine Diagnose zu erhalten. Nach dem Fiasko beim 6h-Lauf in Münster nahm ich dann noch Kontakt zu Max auf. Max ist ein Bekannter und für die LG Olympia Dortmund als Physio tätig. Er genießt einen hervorragenden Ruf und wir kennen uns von den 24h-Läufen im Stadion Rote Erde und dem Derbylauf. Ich frage ihn ungern nach dieser Gefälligkeit, aber ich möchte alle Chancen nutzen. Den Vormittag am Tag vor dem Abflug kann ich mir im Büro freischaufeln und darf zu ihm nach Dortmund kommen. Nachdem der Doc am Montagabend mich untersucht hatte, ein Muskelultraschall gemacht und eine schwere Muskelschädigung ausschließen konnte, könnten wir die Angelegenheit bei Max auf eine Nervreizung im Bereich des Illiosakralgelenkes eingrenzen. Ich würde ordentlich herumgebogen und bekam ein Übungsprogramm mit einem Blackball verpasst, welches ich zwei mal täglich bis zum Lauf absolvieren sollte. Den wichtigsten Satz gab mir Max zum Abschied mit: “Du wirst laufen können!“
Damit könnte ich nun alles andere erst einmal ausblenden, das Gedanken machen brachte jetzt eh nichts. Ich besorgte mir diesen Blackball bei Laufsport Bunert in Duisburg und so ging es in den Flieger zum Kap der Guten Hoffnung.
Über die Reise und unser tolles Programm werde ich in einem separaten Blog berichten. Hier soll es um die Läufe gehen.
Freitag war der große Tag gekommen. Der International Friendship Run an der Waterfront stand an, knapp 6 Kilometer an der Waterfront und am Green Point um das WM-Stadion von 2010. Würde es funktionieren? Die Waterfront ist ein ehemaliger Teil des Hafens, heute legen hier Ausflugsschiffe an und die Arsenale und Kais sind zu einer Flaniermeile mit Shopping-Mall geworden. Direkt daneben liegend die Grünanlagen und das Stadiongelände des Green Point, wo 2010 die Fußball-WM stattfand. An einer Bühne vor der Mall werden Fahnen der Teilnehmerländer verteilt, ein Moderator ruft die großen Nationen auf und gibt Fahnen an die Läufe weiter. Dann werden die verbleibenden Fahnen an beliebige Läufer verteilt, ich nehme mir die türkische und sehe es als nette Geste meinen türkischen Kollegen und Bekannten gegenüber. Wir versammeln uns am Startbogen, ich bin aber schon ein wenig enttäuscht über die übersichtliche Teilnehmerzahl. Dennoch herrscht eine wunderbar ausgelassene Stimmung, als wir auf die Strecke geschickt werden. Die Sonne strahlt vom Himmel und trotz der frühen Stunde, es ist erst kurz nach 9 Uhr, ist es schon muckelig warm. Claudia und Yvy sind wie ich von relativ weit vorne gestartet und gleich mit für mich zu schneller Pace weg, ich mische mich unter das internationale Läufervolk. Mit Englisch kommt man bestens klar, mit Wayne, einem Südafrikaner versuche ich es auch mit ein paar Brocken Afrikans. Immer wieder schieße ich Fotos und frage die Argentinier im Angesicht des Stadions, in dem wir 2010 Ihre Fußballer mit einem 4:0 nach Hause geschickt hatten, ob sie sich wohl erinnern könnten. Könnten sie nicht, also ging es weiter zu den Brasilianern, wo natürlich auch das 7:1 der letzten WM thematisiert werden musste. Auch ein kanadisches Pärchen aus Vancouver treffe ich wieder, mit denen hatte ich mich am Vortag noch am Hotelpool unterhalten. Viel zu schnell sind die knapp 6 Kilometer absolviert, allerdings weitgehende Selbstbespaßung durch uns Läufer. Im Ziel werden wir mit der Südafrikanischen Variante des Mars-Riegels versorgt, es gibt eiskalte Cola und Wasserbeutel, die einen Vorgeschmack auf die übliche Flüssigkeitsverabreichung beim TOM geben. Das Wasser ist hier in kleine Plastikbeutel eingeschweißt, man beißt ein kleines Loch hinein und spritzt sich das kühle Nass einfach in den Mund, ins Gesicht, über den Kopf oder sonst wo hin. Manchmal auch zum Nachbarn, denn wir sind ja alle große Spielkinder. Man kann einen Beutel auch leicht mitnehmen und später trinken, eine gute Sache für einen Lauf und für mich wesentlich besser als die bei uns üblichen Becher. Später lese ich im Netz, dass nur knapp 500 Leute am Friendship Run teilgenommen haben. Eine sehr enttäuschende Zahl, angesichts der über 11000 Starter beim TOM. Meine Muskulatur hat gehalten, ich verspüre keine Beschwerden. Allerdings waren es nur knapp 6 Kilometer und die in einer extrem langsamen Pace. Aber zumindest musste ich nicht abbrechen, wie noch zwei Wochen zuvor in Münster. Ein Rest ungutes Gefühl bleibt dennoch.
Den Nachmittag verbringen wir mit Yvy, Henning und Birgit am Strand. Vom Hotel sind es mit dem Leihwagen nur 10 Minuten Fahrt, schon liegen wir an einem herrlichen Strand in der Sonne und sehen die Brandung mit weißen Schaumkronen an den Sand schäumen. Hinter uns ragen die steilen Felsen der „Zwölf Apostel“ in den locker bewölkten Himmel. Henning und ich wagen uns auch in die kühlen Fluten der Camps Bay, die aber höchstens 14 Grad „warm“ sind. Hätte es uns zu denken geben sollen, dass nur ein paar Kinder im Wasser plantschten. Immerhin gab es keine Zeit zu grübeln. Beim gemeinsamen Abendessen beim Italiener war die Stimmung deutlich angespannter, einige von uns werden morgen erstmals weiter als Marathon laufen, das ist allen schon anzumerken. Ich kann nur hoffen, meine größte Angst ist, dass ich irgendwann unterwegs vor der Entscheidung stehen würde, trotz Schmerzen die Sache irgendwie durchzuziehen und mich damit für die TorTour „abzuschießen“, oder halt mit Blick auf das sportliche Saisonhighlight herausgehen zu müssen. Nicht zu viel nachdenken. Ich empfinde das als eine seltsame Atmosphäre bei diesem gemütlichen Italiener hier in Kapstadt und bin froh, als wir zurück zum Hotel fahren und die anderen raus lassen. Dann fahren Sven, Roman, Ralf und ich noch die vier Leihwagen zum Uni-Parklatz im Zielgelände, wo ich meine Sachen bereit legen kann.
Da die Versorgung mit Verpflegungsstellen alle 2-3 Kilometer sehr gut sein soll und ich zudem nicht werde am Limit laufen können, habe ich nur zwei Dextro-Flüssiggels dabei. Die kann ich in den Hüfttaschen meines Compresssport-Tops verteilen. Ebenso die Armlinge, denn das Wetter ist durchwachsen angesagt. Ich entscheide mich angesichts der Asphaltstrecke für den Adidas-Ultra-Boost, der sehr guten Dämpfung wegen. Ein paar der neuen Falke-Laufsocken, die es in Kapstadt sehr preiswert zu erwerben gibt (es gibt eine Fabrik dort) werden mir keine Probelme bereiten, Blasen kenne ich kaum an den Füßen und das identische Paars Socken lief sich beim Friendship-Run ganz gut. Noch schnell mein Übungsprogramm vor dem Bett meiner Frau absolviert, Claudia macht schon mal die Augen zu. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf, wie eigentlich in jeder Nacht hier. Kein Traum von Schmerz, von Aufgabe.
Um kurz vor fünf geht bereits der Wecker. Originalton vom Schleifer am Vorabend: „Um Punkt 5:45 Uhr geht der Bus, wer nicht drin sitzt, hat Pech.“
In der Hotelhalle gibt es unsere Lunchpakete und Kaffee, ich esse zwei Müsli mit Joghurt und zwei Teilchen, die man für uns aufgestellt hat. Auch eine Banane geht noch rein. Für das richtige Frühstück ist es zu früh, aber Omlette mit Boerewors (grobe Bratwurst der Afrikaaner, sehr lecker) wäre wohl sowieso nicht das Richtige vor einem Ultra. Wir nehmen im Bus noch eine Amerikanerin aus dem Hotel mit, deren Taxi nicht gekommen ist, auch wenn die Dame auf dem Boden Platz nehmen muss. Läufersolidarität eben.
Am Start geht es recht wuselig zu, wir haben Mühe, beisammen zu bleiben. Es ist stockfinstere Nacht und es nieselt leicht. Der Wetterbereicht hat den ursprünglich angesagten Regen immer weiter nach hinten geschoben, auch der leichte Niesel hört auf. Ich ärgere mich, dass ich im Hotel den ausgiebigen Toilettengang vergessen habe und muss mich nun in die Dixie-Schlange einreihen. Abgesehen davon, dass es bei den Herren kaum vorwärts geht weil dort nur 2 (!) der Kunstoffhäuschen platziert sind, ist auch dies gut organisiert. Toilettenpapier wird regelmäßig von Helfern kontrolliert und nachgefüllt, die Anlagen verfügen über Handwaschbecken und Tret-Pumpspülung, so dass man nicht in den braunen See unter seinem Gesäß schauen muss. Danach reicht es soeben für Startfotos, dann geht es schon in den Block. Sven schafft uns alle in Block B, auch wenn er einen Kontrolleur am Eingang ein wenig beiseite schieben musste. Hier gilt nämlich Bruttozeit, und da 7 Stunden bei einigen eng werden könnten, tut man gut daran, nicht erst 10.500 der 11.000 Starter vor einem auf die Strecke zu lassen.
Nach erfreulich kurzer Ansprache des Bürgermeisters von Kapstadt ein beeindruckendes Lied: „Shosholoza“, leidenschaftlich gesungen von den Läufern um uns herum. Das Lied sangen früher die Bergleute, die als Gastarbeiter aus dem noch ärmeren Rhodesien (heute Zimbabwe) in die Minen Johannesburgs einfuhren auf dem Weg zur Arbeit unter ziemlich erbärmlichen Arbeitsbedingungen. Sozusagen das „Glückauf der Steiger kommt“ Afrikas. Ein Lied vom Willen, etwas zu schaffen und mutig heranzugehen. Dann die Nationalhymne Südafrikas. Der Leser mag mir verzeihen, wenn ich hier etwas schulmeisterlich abschweife, aber zum Verständnis der Bilder in meinem Video erscheint mir das hilfreich und durchaus interessant. Ursprünglich war „De Stem von Suid Afrika“ in der Afrikansen, aber auch einer Englischen Variante die Hymne des Apartheid-Staates. Auch diese handelt von den Pionieren des 19. Jahrhunderts, die mit Ochsenwagen in das weite Land zogen und der Liebe zu diesem schönen Land, war aber nach dem Ende der Apartheid bis heute als Hymne der Rassentrennung abgelehnt worden. Dann gab es das Lied „Nkosi Sikelel iAfrika“, ein Kirchengospel in verschiedenen Bantusprachen, welches sich seit den 50er und 60er Jahren zum Protestsong der Apartheidsgegner entwickelt hatte, jedoch auch nur den Segen Gottes für Südafrika und Frieden zwischen den Völkern erbittet. Aus diesen Liedern wurde die Hymne, die aus insgesamt 5 Sprachabschnitten besteht, zusammengefügt zu einem wunderbare Lied, welches die Bevölkerungstgruppen zusammenführen soll. Seit 1994 hat es „De Stem“ abgelöst. Ich bewundere die Leistung dieses Landes, den Wechsel relativ friedlich bis heute hinbekommen zu haben, bei allen Problemen, die immer noch bestehen. Darum habe ich mir die Mühe gemacht, sie zu lernen und singe sie nun ebenfalls mit. Ich möchte Teil dieser einmaligen Völkerverständigung sein. Es waren zwei beeindruckende Minuten, bevor ein „Fishhorn“ mit anschließendem Kanonenschuss uns auf die Strecke schickte.
Es ist noch finstere Nacht, aber eine unvergleichliche Stimmung rechts und links der Strecke, auch unter den vielen Läufern um uns herum. Ich kann das alles nicht so in Worte fassen, denke aber in diesem Moment noch nicht darüber nach, ob mein „Nerv“ mir die Chance geben wird, diesen Lauf zu Ende zu bringen. Man spricht mit vielen Läufern, die einen überholen oder die wir überholen. Auf Englisch geht das ganz gut, und es gibt viel Interessantes zu hören. Da ist die Südafrikanerin, die schon einmal in Füssen den Marathon gelaufen ist und von Neuschwanstein schwärmt. Da sind gut gelaunte Läufergruppen aus Zambia, die nur zum Lauf mit dem Bus angereist sind. Da ist eine Truppe der Marine SANDF mit ihren Laufshirts, da ist ein 61-jähriger weißer Südafrikaner, der sich freut, mit mir deutsch zu sprechen, weil er es seit 30 Jahren nicht mehr gesprochen hat. Er hatte in Südafrika eine deutsche Schule besucht, seine Muttersprache ist Afrikans. Ein älterer Schwarzer in Armeeuniform mit vielen Startnummern drauf lädt uns ein, den Comrades mit zu laufen. Den Entschluss hätten wir auch ohne ihn gefasst, aber der Mann sieht aus, als wäre er ihn schon hunderte Male gelaufen.
Die Strecke führt zunächst fast schnurgerade durch die Vororte von Groß-Kapstadt. Ortsteilnamen wie Rondebosch, Wynberg, Bergvliet erinnern an die niederländische Vergangenheit hier. Auch viele Asiaten – Kapmalaien – an der Strecke lassen die koloniale Vergangenheit aufleben. Ebenso wie die niederländische Architektur der ältesten Gebäude. Ansonsten sieht es hier wenig anders aus, als im südlichen Europa. Baumärkte, Tankstellen, Wohn- und Geschäftshäuser. An einzelnen Stellen versammelt sich ein begeisterungsfähiges Publikum aller Abstammungen und Religionen, aber alle eint die Begeisterung für diesen Lauf. Die eint auch uns Läufer, egal ab schwarz oder weiß oder gelb oder hellbraun oder was auch immer. Ein grüner Marsianer hätte mich auch nicht überrascht. Der Kurs erscheint hier noch flach und wir laufen immer so um die 5:40-45er Pace, hat aber schon die Tücke, immer leicht anzusteigen oder abzufallen. Das geht zu Beginn gut in meine Beine, die jetzt doch merken, dass ich in den letzten drei Wochen nur eine Woche trainieren konnte. Gut, dass mein Oberschenkel noch nicht muckt, denn es sind erst 1 Stunde gelaufen.
Dann erreichen wir entlang der Bahnlinie Muizenberg und damit den Ozean. Hier schwimmen weiße Haie und brüten Robben, daher bin ich nicht böse, dass wir nun am Wasser vorbeilaufen dürfen. Die Sonne verzieht sich hinter einem zunächst dünnen Wolkenschleier, dafür begleitet uns nun neben den hier doch zahlreichen Zuschauern das Tosen der Brandung, die der Ozean an die Felsen hämmert. Die Zuschauer sitzen hier in den zahlreichen Cafés und Bistros oder stehen davor und feuern uns an. In einer Garage mitten in einer Baustelle, wo sonst nichts los wäre, sitzen zwei Musiker. Schon hundert Meter vorher weht der Wind bekannte, lange nicht mehr gehörte Klänge an meine Ohren. Joe Jackson fragt: „Is she really going out with him?“ Toller Song, den ich in den 80ern gerne gehört habe. Spontan halte ich an, begebe mich zwischen die Musiker und singe den Refrain mit, ehe ich mich wieder einreihe. Das kommt gut an. Hier in St. James, dem nächsten Ort, die hier übergangslos zwischen Hottentots-Holland-Berge und False Bay stehen eine Menge feine Häuschen im viktorianischen Stil, leider alle mit Nato-Draht und dicken Gitterläden an den Fassaden gesichert. Das Wohlstandsgefälle hier hat leider eine riesige Kriminalität zur Folge. Claudia und Yvy sind noch bei uns, auch Marco ist noch ab und an zu sehen. Henning und Andreas haben sich etwas weiter nach vorne abgesetzt, hier, wo bereits 19 Kilometer gelaufen sind. Allerdings auch der leichteste, weil flachste Part des ganzen Rennens. Noch geht es mir gut, aber wenn jetzt der Muskel wieder zu machte, würde ich es nicht zum Ziel-Cutoff nach 7 h schaffen. Aber noch merke ich nichts, wohl auch dank des moderaten Tempos, und jetzt geht es erst einmal bergan. Wir verlassen am Fishhoek den indischen Ozean, der eigentlich noch der Atlantik ist, und ersteigen die 20 Höhenmeter der Landzunge, welche die Kaphalbinsel mit dem Festland und der Region Kapstadt verbindet. Diese geht noch etwa 40 Kilometer weit südlich und trennt die Tafelbucht von der False Bay, die wir gerade verlassen. Dort befindet sich das Kap der Guten Hoffnung und damit die Südwestspitze Afrikas. Einen Anstieg kann ich mit weniger Belastung auf der Oberschenkelmuskulatur laufen, bergab muss ich mehr aufpassen. So hatte Kneter Max es mir mit auf den Weg gegeben. Und relativ locker laufen wir drei den Berg hinauf. Einige gehen hier schon, aber davon sind wir noch ein Stück entfernt. Hier laufen wir am Rande der Wohngebiete, links neben uns zeigt sich die weite Landschaft des Naturreservates der Kaphalbinsel. Hier durchlaufen wir bereits den 28 km Bogen. Halbzeit, aber nicht was den Anspruchsgehalt der Strecke angeht. Denn der beginnt hier mit dem Aufstieg zum Chapmans Peak erst richtig. 2:43 h, das wird also irgendetwas zwischen 5:30 und 6 Stunden werden, eher Richtung 6 Stunden. Denn man kann hier der kommenden Höhenmeter wegen nicht so einfach die Halbzeit verdoppeln.
An den Wasserständen läuft es hier toll, zum Einen sind die an beiden Straßenseiten auf mehrere Einzelstände statt auf einen langen Tisch verteilt, zum Anderen werden hier keine Becker gereicht, sondern Wasser und Powerrate in Plastikbeuteln zu je 0,1 l verschweist gereicht. Den kannst Du mitnehmen oder in die Tasche stecken und trinken, wann Du ihn brauchst. Einfach mit den Zähnen aufbeißen und den Inhalt sauber in die Mundhöhle drücken. Keine Sauerei, nichts geht daneben. Einfach und genial. Der Anstieg wird spürbarer, links sehen wir bereits den wunderbaren Strand der Chapman Bay liegen. Wir machen die ersten „Marsch-Pausen“. Die ersten Läufer drücken sich Krämpfe aus den Waden, Claudia schmerzt ein wenig die bereits getapete Achillessehne, das merkt sie beim steileren Anstieg besonders. Die Ausblicke hier sind nicht zu beschreiben, da verweise ich mal auf mein Video vom Trainingslauf.
Da passiert es. Mein Fuß bleibt hängen, ich mache eine Rolle vorwärts auf den Asphalt. Ich bin an einem der tückischen Reflektoren hängen geblieben, die hier entweder auf der Mittellinie oder knapp daneben platziert sind und die im Dunklen den Autofahrern gute Orientierung geben. Ich habe mich wohl wieder instinktiv gut abgerollt, denn ich habe nicht einmal Schrammen an der Emaille von Knie und Ellenbogen. Glück gehabt. Mit dem Vorsatz, besser aufzupassen, geht es weiter hoch, mal marschierend, mal laufend. Mehr „Angst“ habe ich vor dem Bergablaufen, denn da muss ich bremsen, um nichts zu riskieren. Aber ich habe zumindest den Chapmans Peak erreicht, 188 Meter über dem Wasser des Atlantiks, der unter uns an die Felswände schlägt, angepeitscht vom recht stürmischen Wind, der uns nach der einen oder anderen Ecke um die Ohren bläst.
Aber ich will mich nicht beschweren, ich bin „heil“ hochgekommen, lasse es nun bergab aber etwas ruhiger angehen. Das Gefälle ist nicht so steil wie der Anstieg, durch die in den permanenten Kurven angeschrägte Straße aber schwierig zu laufen. Von 188 m am Peak geht es über knapp 6 Kilometer wieder hinunter bis fast auf Meereshöhe. Hier werden auch bereits Kartoffeln und Bananen gereicht. Ich nehme nichts und trinke lieber mein zweites Dextro Gel unten am Meer. Auf dem Weg hinab falle ich noch ein zweites Mal über die blöden Reflektoren, das zweite Mal quittieren Knie und Ellenbogen mit leichten Kratzern, die aber noch nicht bluten. Wieder Glück gehabt. Der Chapmans Peak liegt bereits hinter uns, auch Marco haben wir wieder getroffen. Hier unten am Strand von Hout Bay ist der Teufel los. Jede Menge Zuschauer, Party und Moderationspunkte. Es geht vorbei an einem Township, Imizamu Yethu heißt es. Eines der Ghettos, in denen sich die Farbigen vor der „Wende“ ausschließlich aufhalten durften. Es besteht zu großen Teil aus Wellblechhütten mit Gemeinschaftswasserzapfstellen und Toilettenhäuschen, zumindest haben alle Stromanschluss. Hier wohnen die Armen, aber gerade die feuern uns besonders lautstark an und die Kinder freuen sich über mein Abklatschen. Es kommt mir hier besonders herzlich vor, obwohl die Leute eigentlich andere Probleme haben müssten. Aber es laufen mit Sicherheit auch Bewohner mit. An einem Verpflegungsstand sitzen drei Damen mit Kopftüchern und bedienen ihre Handys, ich bedanke mich bei ihnen und sie lachen mich erfreut an. Es ist toll, wie viele verschiedenste Helfer sich hier um uns bemühen. Der Marathon-Bogen kommt in Sicht, kurz dahinter kommt der brutalste Anstieg des Laufes hinauf zum Constantia Neck. 220 Hm auf knapp 5 Kilometer Strecke bis hinauf ans Rhodes Memorial. „4:16“, rufe ich die Marathon-Durchgangszeit aus. Garnicht so übel, bedenke ich die Steigung. Es wird steiler, ich schalte auf mein Power-Marschtempo um. Um mich herum marschieren fast alle, die, die Laufen, überhole ich zum Teil noch. Ich sehe mich um, aber Yvy und Claudia sowie Marco sind plötzlich nicht mehr zu sehen. Das muss mir jetzt egal sein, ich merke ein wenig Schmerz in der Hüfte, das könnte sich in den Obeschenkel hinunter ziehen und bergab würde ich einiges bremsen müssen, während Claudia und Yvy dort gemeinhin richtig „laufen lassen“. Also würden sie wohl irgendwann wieder kommen. Ich unterhalte mich ein wenig mit einem Mann von der Navy Südafrikas, dann mit dem von der deutschen Schule. Das macht den Anstieg kurzweilig. Immer wieder trabe ich ein kurzes Stück, wenn es dann wieder steiler wird, marschiere ich. Die Pace bleibt immer deutlich unter 9 Minuten, hier lasse ich einige Mitläufer stehen. Schon von weitem höre ich die Blaskapelle, die am Scheitelpunkt des Constantia Nek , ganz in der Nähe des berühmten Weingutes, wo wir am Montag Wein verkostet hatten. Ein Moderator und dichtgedrängte Reihen Zuschauer. Alle rufen herzlich meinen Namen, als ich ihnen „Greatings from Germany“ zurufe und mich für die Reaktion bedanke. Die Südafrikanische Variante des Mars-Riegels wird vom Hersteller verteilt, auch die Cheerleaderinnen vom Friendshiprun sind wieder da. Jetzt geht es nur noch hinab. Und die Straße neigt sich in den Kurven wie eine „Murmelbahn“, wie Henning es später im Finisher-Zelt treffend beschreiben sollte. Hier muss ich wieder einige vorbeiziehen lassen, denn ich versuche mich an Meckis Rat zu halten, den vorderen Fuß maximal 10 cm vor dem Körperschwerpunkt aufzusetzen, um die Muskulatur des hinteren Oberschenkels nicht zu sehr bergab zu belasten. Kraft habe ich noch, merke aber, dass durch die Bremserei meine Lust nachlässt und ich mich langsam ins Ziel wünsche. Ich muss am Ende der gröbsten Gefällstrecke nochmal kurz an den Baum, in dieser Zeit haben mich Yvy und Claudia wohl überholt, wie ich später erfahre. Ich sehe auf die Uhr und stelle fest, dass ich locker unter 6 Stunden bin, alles andere muss mir heute egal sein. Was hätte ich für nette Gespräche verpasst, für Gedanken nicht gedacht, für nette und lächelnde Gesichter nicht gesehen, wenn ich keine Zeit gehabt hätte, mich bei vielen Helfern für ihre Arbeit zu bedanken. Auch der farbigen Lady vor dem Township, die fröhlich unseren Läufermüll zusammenkehrte. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mehr Mars-Riegel genommen habe und sie an die wartenden Kinder ein Stück weiter verteil habe. Ich hatte es schlichtweg vergessen. Sie haben trotzdem tapfer gelächelt, als ich sie abgeklatscht habe. Mit Vollgas wäre dies alles nicht möglich gewesen. Der Ultra-Läufer ist auch bei uns in der Regel hilfsbereit. Sofort fragten mich Läufer, als ich hingefallen war, ob alles o.k. wäre. Aber das war am Sertigpass in Davos genauso. Vielleicht sind Ultra-Läufer deshalb überall auf der Welt zuhause? Auch wenn es sich meist leider nur auf das Laufevent beschränkt – wir sind in diesem Moment eine große Familie. Ein Helfer läutet den letzten Kilometer ein, ich habe gehend meine Abmoderation beendet und laufe wieder an. Den Zieleinlauf will ich bewusst genießen. Ein wenig zieht es in meinem Gesäß, aber nach 56 km darf das. Es geht auf den Campus der Uni, dann auf den Rasen des Rugby-Stadions der Uni. Überall jubelnde Zuschauer. Der Zielkanal ist 300 Meter lang, 3 Rugby-Felder liegen hier hintereinander. Links oberhalb am Berghang das alt-ehrwürdige Universitätsgebäude, drüber der Tafelberg. Und die Zuschauer, der Ansager. Und das Gefühl, über meinen Körper gesiegt zu haben. Zeitlich war es keine Leistung, aber ich wusste am Vortag noch nicht, ob ich das überhaupt schaffen könnte. Jetzt bin ich im Ziel. Emotional angefasst, wie zuletzt in Berlin nach dem Mauerweglauf oder in Biel. Und der Grund ist diesmal nicht die Zeit, nicht die Distanz, es ist die Dankbarkeit, dies zu erlebt haben zu dürfen. Ich genieße den Moment, wo eine freundliche Südafrikanerin mir die tolle Bronzemedaille umhängt, die allen Läufern zusteht, die zwischen 5 und 6 Stunden das Ziel erreichen.
Ein Mitläufer aus Zimbabwe, mit dem ich mich am Anstieg kurz unterhalten hatte, gratuliert mir und fragt mich im Scherz, ob ich ihn mit nach Deutschland nehmen würde. Ich spüre durchaus den Ernst hinter dieser mit einem Lächeln vorgebrachter Scherzfrage. Ich wette, der Mann wäre mit mir gekommen, wenn die Möglichkeit bestanden hätte.
Auch hier im Ziel herrscht – bei zugigen Windböen am Hang des Tafelberges – eine Atmosphäre des Stolzes und des gegenseitigen Respekts. Eigentlich wie bei allen Ultraläufen, nur ist es hier viel größer.
Das Warten auf Claudia und Yvy hat keinen Erfolg, ich sammle nur noch Marco ein, der kurz nach mir ins Ziel kam. Claudia und Yvy sind schon im Zelt. Sie wussten ja, dass ich es schaffe würde und hatten mich „am Baum“ gesehen, waren aber in zu hohem Tempo bergab, um mich noch mit zu nehmen. Sie haben es knapp zwei Minuten vor mir geschafft, sind genau parallel über die Ziellinie und haben damit Laufkollegin Ute aus der „Hall of Fame“ der Ausdauerschule, der Bestzeitentafel für den TOM verdrängt. Sie haben ein Ziel erreicht.
Fast alle haben ihre Premiere an diesem Tag geschafft, nur eine fehlt noch, als das Ziel nach 7 Stunden geschlossen wurde. Das ist unser kleines Drama, konnten wir doch sonst eine Menge frischgebackener Ultra-Läufer im Ziel begrüßen. Aber ist man mit vielleicht 5 Minuten zu viel kein Finisher? Auch über die Dramatik der letzten Minute haben ich mich im Video geäußert, ich möchte das hier nicht wiederholen. Auch wenn der Trainer sagt, das wisse man vorher und das auch richtig ist: Diesen Zieleinlauf denen vorzuenthalten, die das Zeitlimit verfehlen, ist schon hart. Aber es erinnert eben auch daran, dass es halt kein Sightseeing, sondern sportlicher Wettkampf ist. Und in dem gibt es immer auch Niederlagen. Aber kann es eine sein, in dieser Atmosphäre 55 Kilometer und 700 Meter auf der Strecke gewesen zu sein? Nein. Auch sie freut sich über den Lauf. Aber irgendwo bleibt da wohl eine offene Rechnung.
War es nun „The world’s most beautiful marathon“, wie die Propaganda glauben machen will? Es ist ein einzigartiger Lauf, die Strecke in ihrem Ziel und während der Hälfte des Kurses sicher außergewöhnlich, aufgrund der Höhenmeter mit gewissem Schwierigkeitsgrad versehen. Dieses Prädikat möchte ich so nicht vergeben. Es ist ein außergewöhnliches Land mit einer außergewöhnlichen Geschichte, die man bei jedem Schritt erleben und erlaufen kann. Die Rainbow-Nation, von der Mandela träumte und die sich sehr, sehr langsam und unsicher entwickelt hat und hoffentlich noch weiter entwickelt, habe ich erlebt. Und dafür nun hat der Lauf das selbstverliehene Prädikat wirklich verdient.
Das Video zum Lauf:
„Sounds the call to come together,
And united we shall stand,
Let us live and strive for freedom,
In South Africa our land.“
(Letzter Abschnitt der Nationalhymne Südafrikas)