„Sei doch einfach mal spontan!“ Wer kennt den Satz nicht und hat ihn seinem Partner schon mal gesagt oder sich sagen lassen? Ich bin ein spontaner Typ, durchaus, aber was ich da Mittwoch in der Mittagspause auf meinem Handy las, ließ mich dann doch eher verzweifeln. Irgendwie hatte meine Claudia am Montag auf Facebook gelesen, dass beim Kölnpfad – dem 170 Kilometer langen Ultra rund um Köln – nun auch eine 110-Kilometer-Distanz angeboten würde. Zusammen mit einem Foto mit dem Schriftzug „Ja ich weiß, dass ich ein Rad abhabe. Aber guck doch, wie schön es rollt…. Huiiiii!“ der Text: „Ich kriege dieses Köln-Ding nicht aus dem Kopf… meinst Du, wir könnten da starten?“. Ehrlich gesagt fuhr mir einigermaßen der Schrecken in die Glieder. Mittwoch und Donnerstag zwei Halbfinalspiele der EM im Fernsehen, das heißt vor 0 Uhr nicht schlafend im Bett. Freitag 24:00 Uhr dann Start in Köln, bis dahin noch zweieinhalb stressige Arbeitstage. Schlafen danach auf Luftmatratze, Sonntag am frühen Nachmittag zu Hause. Und natürlich 110 Kilometer laufen. Puh.
Ich hatte gerade am Montag wieder begonnen, nach einem Trainingsplan zu trainieren. Langsam wieder Tempo aufbauen, denn Ende Oktober soll ein Angriff auf meine Bestzeit beim Frankfurt-Marathon erfolgen. Da wäre weitere Erholung von der TorTour nicht schlecht. Leider kam mir irgendwie so ein Bibelspruch in den Kopf: „Wohin Du gehst, dahin will auch in gehen und wo Du bleibst, da will auch ich bleiben“. Ich bin nicht religiös, aber damit war für mich die Antwort gegeben. Claudia wollte es, sie würde es tun. Ich hatte die Alternative, die Radbegleitung zu machen oder mit zu laufen. Mein Tourenrad hätte ich warten müssen, dazu war keine Zeit mehr. Rennradtauglich war die Strecke bestimmt nicht, also…
Gut, Claudia meldete uns an. Der nächste Spruch fiel mir in den wenigen Tagen bis Freitag ein. „So’n Hunderter geht ja eigentlich immer.“ Nun, das galt es, unter Beweis zu stellen. Das Wetter war warm und trocken angesagt. Thomas Eller organisiert diesen Lauf das dritte oder vierte Mal, man verzeihe mir die mangelhafte Recherche. Der Kölnpfad ist ein Lauf auf einem markierten Wanderweg des Kölner Eifelvereins, der rund um das gesamte Stadtgebiet der einzigen Millionenstadt NRWs führt, er führt vornehmlich durch die Randbezirke und den Grüngürtel. Die Strecke interessiert mich schon, aber es ist keine zwei Monate nach der TorTour de Ruhr nicht wirklich eine gute Idee, denn der Körper braucht längere Zeit, sich davon zu erholen. Also ließ ich meine Frau uns anmelden. Zeit zur echten Vorbereitung blieb ja eh nicht. Die Hoffnung, Freitag etwas eher im Büro Schluss zu machen und noch etwas schlafen zu können, verkehrte sich natürlich ins Gegenteil, ich kam über eine Stunde später als gewöhnlich nach Hause. Auto packen, da ich der Schlafqualität in einem großen Gemeinschaftsraum keinen hohen Stellenwert beimesse, noch unser „Hotel Seilersee“(das Zelt) in den Kofferraum, gegen 18 Uhr Abend gegessen und um 20 Uhr saßen Claudia und ich im Auto Richtung Köln.
Da das Ziel der 110 Kilometer naturgemäß nicht am Ziel liegt, hatte Claudia sich mit Anja, die auch nur die 110 km laufen wollte, dort verabredet. Wir wollten ein Auto dort stehen lassen und dann gemeinsam zum Start fahren, nach Ankunft dann so auch wieder ins Hauptziel zurück. Es ging dann mal gleich damit los, dass es in Köln mehrere Uferstraßen und auch einen zweigeteilten Schneppenweg gab, den aber mein Navi nicht kannte. Nachdem wir zunächst die falschen Adressen angefahren waren, trafen wir gerade noch so pünktlich zusammen mit Anja um 22 Uhr am 110-Kilometer-Ziel ein. Schon leicht genervt dann eineinhalb Stunden vor dem Start am Ziel, der Sportanlage am Thuleweg. Ein Mehrzweckgebäude mit kleinem Vereinsheim, Umkleidekabinen. Und schönen Rasenflächen, die zum Zeltaufbau einluden. Das verschoben wir aber auf unsere Zielankunft am Samstag, auch wenn mir schon schwante, dass es nach 110 km Laufen etwas schöneres geben würde, als ein Zelt aufzubauen. Aber wenn es morgen bei dem angesagten Wetter den ganzen Tag bereits in der Sonne stünde, hätten wir eine Sauna zum Übernachten oder würden uns beim Durchlüften das Zelt voller Stechmücken einhandeln.
Nach freundlichem Empfang durch Thomas und Thorsten und einem kurzen Briefing, wo ich von den Hinweisen auf Streckenänderungen und Baustellen leicht überfordert wurde, es war ja auch schon spät am Abend. Wir gingen hinaus und überließen uns der üblichen Vorstarthektik, netten Begrüßungen mit vielen Bekannten, aber auch einigen unbekannten Gesichtern, dann ging es schon auf die Piste. Zunächst war ein Abschnitt bis zum Kölnpfad hin zurückzulegen, der überwiegend aus Trampelpfaden bestand. Nach einem Kilometer fand ich uns deutlich zu schnell, ich sah auf meine Uhr und las 6:33. Das war nicht zu schnell, das lief scheinbar einfach nur schlecht. Fing ja gut an. Ging auch gut weiter. Irgendwie hatten wir bereits nach einer guten Stunde an einem Feldweg einen Wegweiser verpasst. Claudias Stimmung war schon irgendwie nicht so gut, ich fragte lieber noch nicht. Es war ihr Lauf, sie sollte ihn laufen und ich nur auf sie aufpassen. Nachts, im dunklen Wald.
An der gesperrten A3-Überführung bemerkten wir unseren Fehler. Anja, Claudia und Eva aus der Pfalz, die sich noch zu uns gesellt hatte. Kurzer Blick auf die Papierkarte, dann hieß es wieder die Strecke retour. Das ging mir schon gewaltig auf den Zeiger. Anja und ich begannen, uns schon hoch zu schaukeln mit dem Gemecker. Aber helfen negative Energien hier wirklich? Waren ja höchstens noch 95 Kilometer. Geht ja. Hatten wir vorhin schon die ganze Zeit das leuchtende Kreuz des Westens auf dem Chemiewerk gesehen, stand es jetzt plötzlich auf der anderen Seite. Wir näherten uns dem Rheinufer. Und überholten das erste Mal Betty, Jessi, Frank und einige andere. Conny war auch noch dabei. Claudia ging es nicht so gut, ihr Magen machte wieder Probleme. Ich merke das schon, obwohl sie wie eigentlich immer nicht jammert.
Hier am Rheinufer ist der Weg gut und die Orientierung leichter. Wir kommen gut voran bis auf die Mülheimer Brücke und bleiben hier zusammen. Hier sehen wir das erste Mal die berühmten zwei Türme, angestrahlt und in der Ferne. Näher werden wir auch nicht herankommen. Ein paar Gruppenfotos, dann geht es weiter und wir setzen uns mit Anja wieder nach vorne ab. Die Strecke am linken Rheinufer kenne ich noch als Laufstrecke vom CTW-Triathlon 2013. Es geht aber ein ganzes Stück weiter Richtung Niehl. Dort geht es dann über die Hafenbrücke, noch rollt es halbwegs und der Halbmarathon ist längst Geschichte. Plötzlich stehen wir vor einem Werkstor, die Straße am Ufer ist zuende. Toll, wieder verlaufen. Uns war, als hätten wir ein Pfeifen hinter uns gehört gehabt, aber nachts gegen 2:30 Uhr in Köln kann es schon mal sein, dass man zwei Frauen hinterherpfeift und wir hatten uns nichts dabei gedacht. 750 Meter umsonst hin, 750 Meter umsonst zurück. Das motiviert wieder ungemein – nicht. Dafür riecht es nach Croissant. In der Nähe befindet sich eine Brotfrabrik, die hat leider geschlossen. Dafür gelangen wir an den ersten unbemannten VP, wo Wasservorräte deponiert sind.
Claudia geht es schlechter, sie muss immer mal kurz anhalten, um die Krämpfe „weg zu atmen“. Hat sie ja im Geburtsvorbereitungskurs gelernt, auch wenn es 19 Jahre her ist. Irgendwie bin ich aber fest entschlossen, trotz eigener Lustlosigkeit das Ding hier durchzuziehen. Betty und ihre Truppe treffen wir am VP wieder, die amüsieren sich schon über uns, aber die haben ja auch Ortskundige dabei. Wäre schlau gewesen, mit denen weiter zu laufen, aber wir waren ja wieder schlauer. Am Fühlinger See, auch den kenne ich vom Triathlon, muss Claudia mal länger Pause machen und in die Botanik. Ich sitze auf einem Papierkorb, als Betty mit ihrer Truppe ein drittes Mal vorbeikommt. Als wir den Fühlinger See dann verlassen und fast wieder auf einen schlechten Wegweiser hereingefallen wären, sehen wir die Truppe aber knapp vor uns und schließen wieder auf. Wir haben jetzt so 33 Kilometer, etwa ein Drittel also. Es ist schwülwarm, ständig steht mir ein kalter Schweißfilm auf der Haut. Die Strecke führt nun langsam zum Rheinufer, danach soll es ziemlich endlos geradeaus gehen. Ich tröste mich damit, dass es langsam hell werden muss. Auf dem Rhein ist auch nichts los, wir laufen aber nun in einer größeren Gruppe, nicht mit Betty, aber die anderen motivieren zum Tempo halten und dranbleiben, auch wenn wir immer wieder aus bekannten Gründen stehen bleiben und hinterher laufen müssen. Anja ist auch wieder da. Irgendwie geht es nicht richtig voran.
Ich rechne hoch, während der Gesang der Vögel den nahenden Morgen ankündigt. Aber ich komme so auf 5 Stunden für den Marathon. Kein Ruhmesblatt, wenn man bedenkt, wie schwer unsere Beine schon sind. „Ist ja noch ein Stück“ – der legendäre Satz von Marcel im RTL-Bericht über die TorTour 2014 geht mir durch den Kopf. Er hatte damals so rund 180 noch zu laufen, so viel ist es ja nicht mehr. Aber 80 Kilometer ist auch noch ein ganzes Ende. Endlos zieht sich der Deich vor uns, endlich dürfen wir abbiegen und bereuen es gleich wieder, denn der bisher gut asphaltierte Weg wandelt sich zum Feldweg, hohes Gras in der Mitte, schmale Spuren rechts und links davon und diese befestigt mit dicken Steinplacken. Meine Knie müssen immer wieder ausgleichen, das sollte sich später rächen. Fast hätten wir uns wieder verlaufen, aber da kommt uns Thomas Eller entgegen. Es ist nicht mehr weit zum ersten „großen“ VP. So ziemlich genau an der Marathonmarke – zumindest mit unseren Verlaufern – haben wir ihn erreicht. Es ist 5 Uhr am Samstagmorgen. Es sind genügend Sitzgelegenheiten, der VP befindet sich mitten in den Feldern vor einer Scheune. Doch kaum sitzen wir, springen einige hektisch durch die Gegend. Alles klatscht sich an die Beine und sonst wo hin, denn irgendwelche Insekten haben es auf unseren noch nicht angetrockneten Schweiß und unser sauerstoffverwöhntes Blut abgesehen. Das hat etwas von einer Übungsstunde der bayrischen Schuhplattlergruppe. Also hielten wir uns nicht allzu lange auf. Meinen Trinkschlauch fülle ich wieder auf 2 Liter auf, mein T-Shirt wandert zugunsten des ärmellosen Shirts in den Trinkrucksack. Denn es ist relativ warm, wenngleich noch bewölkt.
Bereits nach einer kurzen Zeit wurden wir erneut von zurückkommenden Läufern umgeleitet. Ein Zaun spannte sich wohl über die markierte Strecke, aber ein ortskundiger Mitläufer wusste einen Umweg. Nach einigen grottenschlechten Fahrwegen ging es über Feldwege weiter. Das scheint mein Knie mir übel zu nehmen, denn es beginnt in der Gegend des Innenmeniskus dezent zu Schmerzen, genau wie damals in Berlin beim Mauerweglauf. Genauso dezent sinkt meine Laune wieder ab. Bedingt durch Claudias Stop & Go laufen wir nun wieder zu zweit allein. Anja hat sich endgültig nach vorne abgesetzt, sie wird wie erwartet vor uns im Ziel sein. Wir laufen immer wieder an Jörg vorbei, wenn wir dann wieder Gehpausen machen müssen, überholt er uns wieder. Irgendwann sind wir endlich am unbemannten VP. Hier sitzen einige Läufer, darunter auch Jörn und Michael, mit denen wir dann unabgesprochen gemeinsam weiterlaufen. Es tut gut, mal wieder neue Gespräche zu führen. Über gelaufene Veranstaltungen zu diskutieren kürzt die Zeit ab und verlängert irgendwie die Laufabschnitte.
Wir erreichten den Grüngürtel und laufen durch dieses herrliche Areal, dass Konrad Adenauer als Oberbürgermeister einst aus den nach dem Versailler Vertrag zu schleifenden Festungsanlagen schaffen ließ. Sonst wäre es wohl heute komplett zugebaut. Jörg und ich stellen fest, dass wir beide geschichtlich sehr interessiert sind und sind schnell bei Festungsbauwerken, ihrer Wirkungslosigkeit im ersten Weltkrieg und dem Schicksal von Festungsstädten von Verdun und Przemysl, die in langen Belagerungen zusammengeschossen wurden. Für Köln hätte es ähnlich enden können, wenn es im November 1918 nicht zum Waffenstillstand gekommen wäre. Dafür traf es Köln und seine Menschen dann 25 Jahre später aus den Bomberflotten der Alliierten um so härter.
Inzwischen haben wir uns wieder verlaufen, nachdem wir einen Passanten nach unserem Standort auf der Karte gefragt haben, finden wir zurück auf den Kurs. Auch anderen ging es hier nicht besser, Jörgs Track weicht erheblich von der Strecke „auf Papier“ ab. Wir bleiben dann mal beim Papier. Weiter geht es durch die Grünanlagen.Wir sind am Müngersdorfer Stadion angekommen. Claudia scheint es ein wenig besser zu gehen. Am Stadion empfängt uns ein VP mit einer netten jungen Triathletin. Leider kann man nicht sitzen, und mich zu hocken wage ich wegen meines Knies nicht. Das hatte mir in Berlin den Rest gegeben. Also stehend die leckeren Melonenstücke gegessen, dann ging es langsam weiter.Weiter? Irgendwie fühlte es sich nicht so richtig nach Weiterkommen an. Aber egal. Michael war noch etwas sitzen geblieben, ihm war unser Tempo noch zu hoch, so waren wir nun nur noch mit Jörg unterwegs. An Beach-Bars, Tretbootverleihen und Sportfeldern vorbei ging es weiter, ehe wir hinter dem Kreuz Köln-Süd den Grüngürtel Richtung Rodenkirchen verließen. Am dortigen VP hatte ich leider vergessen, meine Trinkblase wieder aufzufüllen. Das sollte sich rächen. Denn bei Rodenkirchen, nach der Überquerung des AK Köln-Süd, war der Schatten spendende Wald schnell zu Ende und es ging auf die Felder, während die Sonne hoch am Mittagshimmel stand. Claudia ging es mal wieder nicht so gut, immer, wenn sie etwas gegessen hatte, kamen ihre Magenprobleme zurück. Aber wir hatten nun 85 Kilometer auf den Uhren, das würde nun durchgezogen, das war uns beiden unausgesprochen klar. Nur noch dreißig, die Verlaufen einmal eingerechnet! Das hört sch übersichtlich an, ist aber noch ein ganzes Ende, wenn die Geh-Abschnitte immer länger werden.
Mein Trinkschlauch war leer und in der Sonne hätte ich literweise Flüssigkeit vertragen. Claudia hatte auch nicht mehr viel und nirgendwo war im Vorgarten ein Anwohner zu sehen, den man hätte um etwas Leitungswasser anbetteln können. Jörg half mir dankenswerterweise zwei Mal mit einem Schluck aus. Wieder schienen wir uns verlaufen zu haben, waren am Ende aber nur einen Feldweg zu weit und konnten nach kurzem Kartenstudium ohne großen Umweg wieder an die Strecke zurückkehren. Dann war endlich der VP an der Rheinfähre erreicht. So ein Fluss gibt ja zunächst wieder neuen Schwung, hier drohte aber die Erkenntnis, dass es am anderen Ufer noch ein ganzes Stück länger wieder zurück gehen sollte. Ich konnte jedenfalls zunächst meinen Flüssigkeitshaushalt in Ordnung bringen und etwas essen. Claudia tat dies auch, obwohl es sich wieder rächen sollte. Jörg war schon losmarschiert, hier trennten sich unsere Wege ein Stück und das war auch völlig in Ordnung.
Claudia musste längere Gehpausen einlegen. Hier am Treidelpfad war viel Verkehr, viele Radfahrer hätten ein Laufen zu dritt ohnehin nicht erlaubt. Zumal sich viele einfach nicht der Klingel bedienen können oder wollen, schade eigentlich. Egal, der Weg wurde bald breiter und das Problem hatte sich gelöst, auch hatten wir Jörg wieder eingeholt. Jetzt kam die Rodenkirchener Autobahnbrücke nicht näher. Besser gesagt, wir wussten es nicht, denn durch die Auwälder konnte man sie gar nicht sehen. Vorbei an Campingplätzen zog sich die Strecke, ohne irgendwo zwischen den Bäumen die in Kölner Grün gestrichenen Pylonen der Autobahnbrücke sehen zu können. Endlich hatten wir die Uferpromenade erreicht und sahen das Ding in der Ferne, es waren locker noch zwei bis drei Kilometer. Dabei wurde es immer wärmer. Gustav kam uns auf dem Rad entgegen, er wollte Betty und Jessica supporten. Nach einer kurzen Begrüßung und einem Foto ging es für uns drei weiter. Endlich war die Brücke erreicht und überquert, es ging am anderen Ufer wieder zurück. Die Aussicht auf Susanne Alexis bekannt gut bestückten VP trieb uns an, immer wieder versuchten wir, anzulaufen. Immer wieder aber auch verfielen wir wieder ins Marschieren. Irgendwo bei 95 Kilometer erreichten wir dann den VP, der wunderbar und liebevoll mit vielen selbst gebackenen Sachen und anderen Leckereien ausgestattet war. Ganz lieben Dank an Susanne, es tut uns fast leid, hier nicht ein oder zwei Stunden verweilen zu können.
Von Jörg verabschieden wir uns hier. Er hat noch eine Strecke vor sich, so knapp 76 Kilometer. Wir möchten beide nicht tauschen. Es soll noch gut 15 Kilometer Stromaufwärts gehen, bis wir endlich unser Ziel bei 110 km erreichen sollten. Claudias Magen macht nach der guten Verpflegung leider wieder stärkere Probleme, mein Knie schmerzt weiter. Ich bin stinksauer auf mich selbst, dass ich mich hier auf den Blödsinn überhaupt eingelassen habe. Mein Knie gewöhnt sich nach etwa hundert Metern laufen an den Laufschritt und schmerzt dann weniger, bei Claudia wird das Magenproblem aber größer, wenn sie läuft und sie muss immer wieder stehen bleiben. Bei mir führt das dann dazu, dass beim Anlaufen das Knie wieder schmerzt. Aber der Wille, das jetzt auch noch durchzuziehen, ist da und stark. Die Sonne brennt weiter, die schwüle Luft liegt schwer auf dem Leinpfad. In Zündorf erwartet uns nette Außengastronomie und ein Altrheinarm, dessen Brackwasser grün überzogen ist. Die Tretboote treiben herrenlos in der grünen Pampe, die hat wohl ein Scherzkeks los gemacht. Wir laufen weiter, nein, wir marschieren gemeinsam weiter. Das Laufen wird recht selten. Bei Langel geht es über einen Deich auf den Auwald zu, an dessen Ende das Ziel sein wird. Hier steht die Luft unerträglich, sie flimmert auf dem Asphaltband. Endlich ist der Auwald erreicht, aber der Weg wandelt sich zum zugewachsenen Trampelpfad. Hier herrscht Mückenalarm. Rechts und links zwischen den Bäumen steht Brackwasser, ein Paradies für die kleinen Plagegeister, die auf abgestandenen Läuferschweiß zu fliegen scheinen. Dazu Brennesseln, die sich gierig nach unseren freien Hautstellen recken. Eine Stimmung wie beim Dreh zu „Apocacolypse Now“, es fehlt nur noch der Vietkong-Kämpfer auf Flip-Flops mit der AK-47, der aus dem Gebüsch springt. Wir laufen auf einen weiteren Läufer auf, der von seiner Partnerin auf dem Rad begleitet wird. Die kurzen Gespräche machen den Rest dann kurzweiliger. Es ist fast 17:00 Uhr, als endlich die Ecke am Ende des Waldes zu sehen ist, hinter der das Ziel liegen muss. Und da ist es. Endlich da, endlich hat der Alptraum ein Ende, als den ich diesen Lauf von der ersten Minute an empfand.
Es tat gut, endlich sitzen zu dürfen, ohne den Druck zu haben, gleich wieder aufstehen zu müssen. Wir wurden bestens versorgt, einschließlich warmen Kartoffelbreis aus der „X-Zeiteinheiten-Terrine“ eines bekannten Fertignahrungsherstellers. Und… wir haben Glück. Anja liegt hinter dem VP auf der Wiese und schläft tief und fest. Wir hatten nicht erwartet, dass sie noch zwei oder drei Stunden hier auf uns wartet. Da wir ja gemeinsam zum Start zurückfahren wollten, hat sie auf uns gewartet, obwohl sie eigentlich abends noch weg wollte. Eingeschlafen wäre ich an ihrer Stelle auch.
Gemeinsam machen wir uns auf den 1000 Meter langen Fußweg zu Anjas „Hugomobil“, wie ihr Wohnmobil scherzhaft genannt wird und fahren dann zurück zum Ziel. Duschen kann richtig gut tun, Zelt aufbauen nach 17 Stunden Laufen eher weniger. So blieb es angenehm und mückenfrei, wir schliefen tief und fest und ließen uns auch durch die immer wieder eintreffenden und laut beklatschten 171-km-Finischern nicht wecken. Nach einem schönen, sonnigen Sonntagvormittag mit vielen netten Gesprächen, ordentlichem Frühstück und einem ganz tollen Mittagsbuffet zur Siegerehrung endete das Wochenende mehr als versöhnlich. Die Nachzielamnesie tat ihre fatale Wirkung. Und inzwischen glaube ich, dass ich mental gut vorbereitet und mit entsprechender Erholung vor dem Lauf auch an dieser sehr liebevoll organisierten Veranstaltung Spaß hätte. Vielleicht reizt es mich ja im nächsten Jahr, komplett zu laufen?