Seilersee Iserlohn, irgendwann gegen halb zwölf Uhr Nachts. „Ich hab keine Motivation mehr“ „Du ziehst mich runter, das kann ich spüren““Lauf alleine weiter““Nein, ich lass Dich hier im Dunklen nicht alleine““Blödsinn, lauf““Nein““Ich gehe ab hier, Du kannst ja weiter laufen“ „Na, toll“. 3 Runden später beim ersten Überrunden: „Beeil Dich ein bißchen, mir ist kalt“ „Bau lieber schon mal das Zelt ab“.
So oder so ähnlich spielte sich der Dialog zwischen Claudia und mir am Seilersee ab, wir hatten etwa 75 Kilometer absolviert und noch 25 zu laufen. Das sind gut 13 Runden um den See und bei sich dem Gefrierpunkt nähernden Temperaturen nicht das, was wir normalerweise als „Spaß am Laufen“ bezeichnen würden. Aber für mich gehört es dazu, für mich war dieser Moment eine mentale Generalprobe, war Zweifel und Bestätigung zugleich. Aber erzähle ich mal der Reihe nach.
Wir hatten, nach den tollen Erlebnissen vom vergangenen Jahr bei dieser Veranstaltung sie für dieses Jahr gleich wieder ins Programm aufgenommen. Es ist etwas knapp 3 Wochen vor dem Großereignis TorTour de Ruhr, dem wir in diesem Jahr alle physischen und psychischen Ressourcen unterordnen wollten und taten, somit verbietet sich für uns Ultra-Anfänger ein 24-stündigers Durchlaufen. Unser Plan war, maximal 100 Kilometer, diese größtenteils in der Nacht zu laufen, um uns für diesen Teil der TorTour entsprechend vorzubereiten. Von den Gedanken konkreter Ernährungstests hatte ich mich bereits länger verabschiedet, nach dem in Berlin beim Mauerweg ja auch fast alles „rein ging“. So sollte es hier auch werden, das Läuferbüffet ist hier am Seilersee traditionell gut bestückt.
Während der Woche wurde der Wetterbericht immer unansehnlicher, für die Nacht wurde sogar leichter Schneefall und Temperaturen um den Gefrierpunkt erwartet. Unser „Hotel Seilersee“, das für das letzte Jahr eigens angeschaffte Zelt, würde uns in diesen Stunden kein heimeliges Quartier werden können. Mal sehen, kommt Lauf, kommt Rat.
Wir waren am Samstag zeitig vor Ort und stellten unser „Hotel“ direkt an der Laufstrecke auf, fast am selben Platz wie im Vorjahr. Mit der inzwischen gewonnenen Routine ging das recht schnell, die Schlafsäcke ließen wir noch im Auto, denn diese hatten sich im Vorjahr bei ebenfalls feuchter, aber bei weitem nicht so kalter Witterung recht klamm angefühlt, als wir am frühen Morgen hineinschlüpfen wollten. Unsere Freunde Yvy und Henning hatten sich für den 6h-Lauf dort angemeldet, also würde es wohl doch darauf hinaus laufen, dass wir die ersten sechs Stunden würden zusammen laufen. Hoffentlich bleib dann noch etwas Strecke für die Nacht übrig, mein Plan hatte eigentlich vorgesehen, sich am Nachmittag bei etwas angenehmeren Temperaturen noch ein wenig im Zelt aufs Ohr zu legen.
So aber liefen wir fröhlich erzählend zu viert Runde um Runde, Stunde um Stunde. Das Wetter meinte es gegenüber den Prognosen noch gut mit uns, die dunklen Wolken schütteten lediglich ein paar Tropfen aus, als wir eh unter dem Dach des Waldes am Ostufer entlang liefen, es war kaum der Rede wert. Dazwischen schien sogar immer wieder die Sonne und hob die grundsätzlich einstelligen Temperaturen ein wenig an. Das Bremsen zu Beginn hatte ich aufgegeben, wir bewegten uns konstant und deutlich unterhalb der 6er Pace. Das war mir für heute relativ egal, später, nach der Pause nach 6 Stunden, würde es langsamer werden, das war mir klar. Yvy läuft den Bambini-Lauf der TTdR, also die 100 km. Es ist zwar ihr erster „Hunderter“, aber wer den K78 in Davos bewältigt hat, wie sie im vergangenen Jahr , der schafft auch die 100 km flach. Jede Stunde wollten wir ein Foto an der Rundenzählung machen und machen das auch. Eine fröhliche Gruppe, aber zwei davon hatten nicht die lange Nacht vor sich. So gingen die ersten Stunden relativ schnell um, unterwegs war immer wieder die TTdR ein Thema. Viele andere Ultras unterhielten sich darüber, für viele war dies hier ein Training für das Highlight in drei Wochen. Aber auch beruhigend zu hören, welche und wie viele Gedanken sich auch die anderen Teilnehmer machen. Irgendwie scheint hier jeder an diesem Ereignis beteiligt zu sein. Yvy schaut unterwegs immer wieder mal auf die Rangliste, die hier in hervorragender Weise zeitgleich nach Überlaufen der Kontrollmatte auf einem großen Monitor angezeigt wird. Denn sie ist vorne dabei. Claudia auch, aber da wir ja gleich Pause machen wollen und auch nicht mehr als 100 km absolvieren, rechnet sie sich nichts aus. Als nach knapp 4:15 h der Marathon absolviert ist, nehme ich zwei Fähnchen, die hier an der Rundenzählung für die „klassischen Distanzen“ zur Verfügung stehen. Halbmarathon hatten wir ausgelassen, Marathon, 50 km und so weiter laden ein, seine bereits erbrachte Leistungen den Zuschauern und Mitläufern zu präsentieren und sich ein paar Glückwünsche abzuholen. Yvy und ich tragen das Fähnchen für unsere kleine Truppe um den See. Weiter geht es, der magischen „50“ entgegen. Ich denke nach, wie es danach weiter gehen soll. Claudia und ich beschließen, bei 50 aufzuhören. Aber da ist ja noch das Fähnchen… Während Claudia am VP sich unterhält, Yvy und Henning auf ihre letzten 2-3 Runden gehen, gehe ich zum Zelt, ziehe mir meine Jacke über und beschließe, die Fahne in Laufrichtung gehend zurück zu bringen. Das bringt mir nochmal eine Runde. Am Zelt wartet dann Claudia schon, sie hatte mich gesucht. Dass ich es mir spontan überlegt hatte, die Runde zu gehen, scheint sie mir nicht so richtig abzunehmen. Im letzten Jahr war sie ja mit einem Meter mehr vor mir platziert. Scherz beiseite, es gibt nun Nudeln. Zwei Sorten mit drei Sorten Saucen. Sehr lecker, aber noch besser ist, dass innen im Vereinsheim das Spiel meiner Schalker gegen Leverkusen auf Großleinwand übertragen wird. So wird die Pause kurzweilig. Zunächst genießen wir die wirklich leckere und heiße Pasta. Auch hier wird sich Mühe gegeben, allen Teilnehmern gerecht zu werden. Auch Vegetarier und Veganer wurden berücksichtigt, wie auch mit der veganen Ecke am VP. Muss ja heute wohl so sein, aber es stört ja nicht. Ich kann alles essen und freue mich darüber. Weniger freue ich mich dann über das, was ich nach der Siegerehrung der 6h-Läuferinnen auf der Großleinwand zu sehen bekomme. Aber Yvy freut sich über den ersten Platz bei den Frauen mit ihren 55 gelaufenen Kilometern. Der Bambini-Lauf sollte kein Problem für sie werden. Das man mit 55 km bei den Frauen in unserem relati gemütlichen „Quatschtempo mit Verpflegungspausen“ die Frauen-Wertung gewinnen kann, zeigt auch, dass die nahe TTdR ihre Schatten hier voraus wirft. Hier will sich keiner mehr verausgaben und viele starke Läuferinnen und Läufer halten sich heute halt zurück. Umso schöner, wenn das dann dennoch reicht. Das sollten wir am nächsten Tag auch noch selbst erfahren.
Das anschauen der zweiten Halbzeit wurde nicht gerade ein Genuss, die Emotionen unter Schalkern und teilweise anwesendem „Thekenpublikum“ gingen etwas hoch und Claudia zog es vor, den Raum zu verlassen und im Zelt ihren Rücken mit einigen gymnastischen Übungen bei Laune zu halten. Nach dem Abpfiff wollte ich nur eines, schnell auf die Laufstrecke. Da hat laufen wieder etwas Gutes, man kann sich sofort abreagieren. Wir hatten noch gut 48-50 km vor den Augen, das wären so 28-29 Runden. Auch ich machte auf meiner Luftmatratze noch ein paar Übungen, dann zogen wir die langen Laufsachen, die Jacke und Handschuhe über und es ging in die Abenddämmerung. Die erste Runde wollten wir marschieren, damit die eingerostete Muskulatur wieder richtig warm wird. Die Holzbank im Vereinsheim war nicht wirklich bequem gewesen nach den bereits absolvierten 50 Kilometern. Das Konzept schien auf zu gehen, wir trabten ab der zweiten Runde locker an und es ging relativ gut. Das war ja schon das erste Fragezeichen. Wie steckt man eine längere Pause weg. Bei der TTdR sind jetzt zunächst keine 3 h Pause geplant, aber man weiß ja nie. Und jeder, der schon einmal einen Marathon gelaufen ist weiß, wie gut man sich eine oder zwei Stunden danach fühlt, wenn der Körper komplett auf Regeneration umgeschaltet hat und der Kopf ihm mitteilen möchte, dass das deutlich zu früh wäre.
Wir drehten, zunächst gut gelaunt unsere Runden, fanden aber leider irgendwie niemanden, der in unserem Tempo unterwegs war. Viele gingen bereits, andere spulten die Runden in scheinbar irrwitzigem Tempo ab. Keiner lief in unserem Tempo und unsere Gesprächsthemen gingen uns naturgemäß recht schnell aus. Das Tempo war sogar sehr gut, bedenkt man, dass wir immer zwischen 6 und 6:30er Pace uns bewegen konnten, das ganze relativ mühelos. Zumindest, wenn man es rein physisch betrachtet. „Was macht Achilles?“ Fragte ich meine Frau. „Tut wie üblich weh, aber nicht schlimmer.“ Das erklärt die schlechter werdende Laune nur teilweise, befriedigt mich aber auch nicht wirklic
h. Zu wissen, dass der Partner neben einem unter Schmerzen läuft, motiviert jetzt nicht gerade. Wir laufen weiter schweigend nebeneinander her. Was sollen wir uns nach über 7 Stunden auch noch erzählen. An meiner Analyse der 2. Halbzeit der Schalke-Partie ist Claudia eher mäßig interessiert, um es mal vorsichtig auszudrücken. Also verzichte ich darauf. Die Beleuchtung ist eingeschaltet worden. Auch hier haben die Veranstalter sich wieder alle Mühe gemacht. Eine Stirnlampe ist hier in keiner Weise erforderlich, Blau, grün oder rot angestrahlte Bäume, eine Disco-Kugel, deren Spiegelungen sich auf der Strecke und an den Pfeilern der A46-Talbrücke über den See wiederfinden, eine Nebelmaschine, deren Wolken ebenfalls bunt beleuchtet über den See schweben. Aber irgendwie genieße ich das nicht, es schwebt so eine negative Aura über unserem gemeinsamen Lauf. Ich möchte mit Absicht nicht auf den Rundenzähler-Bildschirm schauen, möchte einfach weiterlaufen und mich irgendwann positiv überraschen lassen. Claudia möchte gucken. 71 km gelaufen. Ob sie oder ich jetzt angezeigt wurde, interessiert mich in dem Moment nicht. Aber verdammt, es sind noch 29 Kilometer. 29 geteilt durch 1,77 km oder so….lassen wir lieber die Rechnerei. Es ist jedenfalls noch verdammt viel. Unsere Laune hebt das nicht und ich spüre irgendwie, wie mich Claudias Demotivation immer weiter selbst herunter zieht. „Du ziehst mich runter“. Na ja, den Rest habe ich ja schon in der Einleitung geschrieben. In meinem Kopf stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. „Wir schmeißen das Zelt einfach ins Auto und fahren nach Hause, man kann sich hier nirgendwo mehr hinlegen“. Was wären auch die Alternativen? Sich in die überheizten Umkleidekabinen zu legen, wo das Licht brennt und laufen Läufer durchflitzen, die Toiletten aufsuchen oder gar duschen? Zu duschen und auf harten Bierzeltgarnituren bei Temperaturen um den Nullpunkt warten, dass die Zeit vergeht? Nein, das soll in keiner Weise eine Kritik an den vom Veranstalter gebotenen Aufenthaltsmöglichkeiten sein, es ist einfach eine Beschreibung der Realitäten. Wir könnten nur wandernd weiter um den See laufen. Es piepst, Claudia sagt mir nun, dass sie ab sofort gehen wird und gleich aufhöre. 75 Kilometer sind gelaufen, zumindest für mich. Ich bin in dem Moment stinksauer auf meine Frau. Sauer, weil sie sich nicht an die gemachte Verabredung hält. Sauer, weil ich nun wohl alleine einen 25 Kilometer langen Trip durch die Finsternis vor mir habe, ohne Musik auf den Ohren oder irgendeinen Radbegleiter. Soll ich das wirklich so durchziehen? Ja, im Grunde ist das kein Thema für mich. „Man gibt nicht auf, nur weil etwas schwierig ist“ erklingt sofort meine innere Stimme. Im Grunde bestätigt dass ja auch unser beider Überzeugung, dass man nur eine bestimmte Zeit miteinander laufen kann und danach jeder seinen Rhythmus haben muss. Ich laufe also mit unveränderter Pace weiter. Daurch das sich an die Rundenzählanlage anschließende Zeltlager, wo Staffeln den Grill angeworfen und selbst um kurz vor Mitternacht noch der Grill glüht. Auf achteckigem Pflaster. Dann am verlassenen Asiatischen Restaurant vorbei zum Moderationspunkt am Stadioneingang über Asphalt, dann gepflastert hinab vor das bunt bemahlte Vereinsheim mit den Umkleidekabinen. Dann folgt der Verpflegungspunkt. Hier haben Romy und Nora ihre Karnevalskostüme über gezogen, Nora als Marienkäfer, Romy als „weiß ich nicht“. Ist wohl wärmer. Denen und den anderen gehört mein Respekt. Auch wenn im Zelt die Heizlüfter blasen, es ist kein Zuckerschlecken, die ganze Nacht zu stehen, zu sitzen, Brote zu schmieren, Verpflegung anzurichten und bei mies gelaunten Läufern immer schön freundlich zurück zu lächeln. Toll, dass es solche Menschen gibt. Irgendwann stelle ich mich auch mal dahin. Dann biegt die Strecke scharf nach rechts. Vor mir das Zelt mit den beiden Musikern, die uns den halben Abend mit ihren Sangeskünsten erfreut haben und die gerade eingepackt hatten. Ein Schotterweg, der wohl dem Verlauf der alten Laufbahn um den neuen Kunstrasenplatz folgt, weist mir den Weg vorbei an unserem Zeltplatz hinter der Eckfahne. Dann geht es über die einseitige 100-Meter-Tartan bahn wieder auf dien Schotterweg, der mich um die Kurve der Laufbahn zum Ausgang führt. Hier geht es gepflastert kurz und relativ steil hinauf, dann ist man wieder auf dem Uferweg der hinter der Eishalle am Seilersee, wo die Iserlohn Roosters in der Deutschen EishockeyLiga über eine Stimmungshölle verfügen. Hier laufe ich wieder hinab zum Seeufer. Das bergab veranlasst mich immer zum Aufpassen, ich denke immer an Meckis Worte, den Fuß nicht zu weit vorne aufzusetzen. Aber mein Onerschenkel macht keine Probleme. Über eine Holzbrücke wird der Zufluss des Stausees überquert, man hat einen tollen Blick auf den beleuchteten Wald am Ostufer. kurz hinter der Brücke wechselt der Belag des beleuchteten Uferweges von Pflaster auf Asphalt und steigt dann langsam an. Sobald ein Schild auf der linken Seite kommt, stelle ich Runde für Runde das Laufen ein und marschiere den „Berg“ hinauf. Da haben wir schon nach etwa 4 Stunden so gemacht, hier muss man keine Kräfte verpulvern. Wichtig finde ich hier, dass man sich zwei Fixpunkte sucht, einen zum Marschieren und einen zu wieder loslaufen. Sonst besteht die Gefahr, dass man immer früher mit dem Gehen beginnt und immer später mit dem Laufen. Was ich unterwegs von anderen Läufern sehe, bestätigt diese Theorie in der Praxis. Vor einem Jahr hatten wir uns in der Nacht immer „5-Kilometer-Päckchen“ zurecht gelegt, jetzt rechne ich nur in Runden.
13, 12, 11. Gleich nur noch 10. Ich überhole viele Läufer, die längst auf Gehbetrieb umgeschaltet haben. Aber ich bleibe alleine. Ab und zu höre ich ein paar Worte, die sich von meinem Tempo angesprochen fühlen. Es läuft und ich habe keine Schmerzen. Aber auch keine Lust mehr. Die gleichförmige Strecke. Nach dem marschierten Anstieg geht es ein Stück asphaltiert bergab, einmal am Zaun der Skater-Rampen vorbei, die man hier unter die Brücke gesetzt hat. Dann ganz leicht bergan, auf die grün-blau illuminierten Bäume zu. Habe ich die erreicht, ein kleines Stück steil bergab, dann über den „Staudamm“, an dessen Ende die „Disco-Kugel“ wartet, dann bin ich Runde um Runde an der Zählanlage. Ich schaue nicht mehr drauf, ab und zu piepst mein Garmin. Auch da sehe ich nicht drauf. Ich überhole Krissy und Claudia wieder. Claudia ist auf unsere Bekannte Krissy gestoßen, die die 12 h läuft und wohl auch ziemlich demotiviert war. Und da Minus mal Minus wohl Plus ergibt, marschieren die beiden nun zusammen. Ich gebe den Bescheid mit den 5 Runden und der Rest von dieser, erhalte den Rat, mich zu beeilen. Toll. Aber gegenseitiges Mitgefühl kann man bei unserem psychischen Zustand nicht mehr erwarten. Tun wir wohl auch nicht. Ich weiß, das es nach dem Lauf wieder vergessen sein wird. . Ich schaue auf den Rundenzähler, es ist tatsächlich nur noch eine Runde. Was bin ich jetzt froh, dass ich diese eine Runde vor der Pause wegen dem doofen Fähnchen spaziert bin. 98,2 und irgendetwas. Da befällt mich ein schrecklicher Gedanke. Da die Runde ja 1,7 und irgendetwas lang ist, könnte ja 99,9 km bei der nächsten Runde dort stehen. Das ist seltsam, was machen schon die paar Meter? Nein, es ist nicht egal. Wenn ich hundert Kilometer laufen will, will ich hundert laufen und nicht 99,9999. Auch wenn mein Garmin bereits 103 anzeigt, wegen der zweimaligen Autobahnunterquerung und der amtlichen Streckenvermessung ist es klar, was richtig wäre. Noch eine Runde drehen, nachdem ich mich seit 13 Runden über Stunden mühsam herunterzähle? Ein letztes Mal die Gehpause, dann wieder los laufen. Ich müsste ja eine ganze Runde laufen, da wir ja nach Hause wollen und somit keine Restmeter von uns nach den 24 Stunden mehr mehr vermessen werden könnten. Die 100er Fahne habe ich schon dabei, denn kurz vor dem Ziel werde ich es auch hoffentlich offiziell beendet haben. Und ja, 100,1 km zeigt der Plasmabildschirm. Ich jubele. Leise, denn vor Kälte und mit Rücksicht auf schlafende Läufer in Autos oder Zelten. Es ist vollbracht. Was für ein Training für Körper und Geist. Ich trabe dennoch die vielleicht 200 Meter bis zum VP zurück, ein Zeichen, dass es mir relativ gut geht. Erst mal einen warmen Tee, etwas essen. Das tue ich im beheizten Zelt. Auch hier sitzt gerade ein Läufer, wir unterhalten uns ein wenig, während ich warte, dass Claudia und Krissy ihre Walking-Runde beenden. Auch Bernd Nuss, der Veranstalter, ist kurz im Zelt. Ihm berichte ich von unserem Plan, wegen der TTdR nur 100 zu laufen und dass nun für uns hier Ende ist. Nicht, ohne meinen Respekt vor der tollen Veranstaltung zu bekunden, die er hier auf die Beine stellte. Bernd wird selbst mit dem Roller an der TTdR teilnehmen, er kann meine Argumente nachvollziehen und sieht sie nicht als Herabwürdigung seiner Veranstaltung, hoffe ich einmal.
Dann kommt Claudia ins Zelt. Krissy sehe ich so nicht mehr, denn für die geht es weiter. Meine Beine sind nun auf der Bierzeltgarnitur, auf die ich mich halb sitzend, halb liegend platziert habe, recht schwer geworden. Sie möchte das Zelt abbauen und ins Auto stopfen. „Ich baue hier bei 2 Grad Kälte im Dunkeln ganz sicher kein Zelt mehr ab. Dazu bin ich nicht mehr in der Lage. Es ist halb drei, wir ziehen uns um, dann fahren wir nach Hause, sind um vier Uhr im warmen Bett, schlafen 5 Stunden gut und warm, frühstücken und sind dann um halb zwölf zum Ende wieder hier!“ So wie Claudia eine Entscheidung für sich getroffen hat, treffe ich jetzt eine für mich. Und so machen wir es dann auch.
Beim Umziehen im Zelt wird uns beiden klar, dass man sich hier nicht hineinlegen könnte. Zumindest nicht mit unseren minderwertigen Schlafsäcken. So fahren wir eine knappe Stunde nach Hause, schlafen um 4 Uhr früh wie die Steine ein und sind um 9 Uhr halbwegs ausgeruht. Um halb zwölf sind wir zurück am Seilersee. Und erfahren, dass Claudia mit ihren 91 Kilometern sogar noch den 3. Platz der W45 belegt, damit einen Sixpack Faßbrause und einen Blumenstrauß erhält. Passend beginnt es bei der Übergabe wieder zu schneien. Wir freuen uns dennoch gemeinsam über eine sehr gelungene Veranstaltung und ein tolles Training für die TorTour. Es war mein vierter „dreistelliger“ Lauf, ich bin mit der reinen Laufzeit von etwas über 11:15 Stunden mehr als zufrieden, bedenkt man die kalten Bedingungen. Auch Claudia hat ja die Trainerempfehlung „80-100“ umgesetzt. Mit ihrer Motivationslosigkeit an diesem Abend kommt sie klar, das wäre bei der TorTour nie passiert. Unsere Körper gehen die Belastungen mit. Meine Psyche auch. Ich bin bereit für Winterberg. Für Ruhrort. WIR werden es schaffen, das weiß ich jetzt.