Münster – 6-Std. mit Deutscher Meisterschaft und Tochter Anke

Wenn ich so im Oktober/November letzten Jahres allein und in mich versunken durch die Landschaft trabe und mit niemandem reden kann, weil ich eben allein laufen muss bis auf eine wöchentliche Einheit mit wenigen Frauen unseres Lauftreffs, keimt in mir eine Idee, eine vage Vorstellung, die ich noch nicht greifen kann. Sie ist so abstrus, dass ich sie gar nicht weiterdenken will. Wie wäre es, und jetzt halt dich fest, wie wäre es, wenn ich mal wieder bei einem Lauf, egal wie lang, starten würde, bei dem viele, viele Runden zu absolvieren sind. Und das gemeinsam mit meinen Freunden. Denn der soziale Kontakt ist natürlich mächtig eingedampft, da ich mit ihnen nicht mithalten kann und andererseits nicht verlangen kann, dass sie sich mir anpassen. Da gibt es den Lidoma, den Phönixseelauf, es gab den Kringel und sicherlich noch andere Veranstaltungen. Dies würde bedeuten, dass ich laufe solange ich kann und dennoch mit meinen Kumpels etwas gemeinsam unternehme. Die andere Möglichkeit wäre, bei einer Veranstaltung mit mehreren Distanzangeboten eine kürzere zu wählen als maximal möglich. Auch das hat einen gewissen Charme. Hier bietet sich u.a. der AWO-Lauf in DO-Asseln an.

Mir gefällt der 6-h-Lauf in Münster, an dem ich bereits mehrfach teilgenommen und den ich liebgewonnen habe. Das ist ein außergewöhnlicher Lauf, bei dem nicht die Streckenlänge, sondern die zu laufende Zeit entscheidend ist. Wie viele Kilometer Du in den 6 Stunden zurücklegst, bleibt Dir überlassen. Der Veranstalter Christian Pflügler ist Berufssoldat in Münster, er läßt uns jedes Jahr in einer anderen Kaserne in dieser Stadt laufen. Es gibt ja genug.

Und in diesem Jahr wieder 6 Stunden? In diesem Jahr, in dem Du (fast) nichts auf die Kette bekommst. Ist das möglich? Schaffe ich eine längere Distanz ohne ausreichende Vorbereitung? „Unmöglich und abwegig“, flüstert mir permanent der innere Schweinehund zu. „Lass das, konzentriere Dich doch vielmehr auf die kürzeren Strecken, die Du zu laufen gewohnt bist. Auf was willst Du Dich da einlassen? Du kannst ja gar nicht auf lang trainieren. Du bist bekloppt, gehirnamputiert.“ Ach, lass den Kerl doch dummes Zeug erzählen, mir gehen seine Einwände und Bedenken auf den Senkel. Sein unverständliches, immer leiser werdendes Gebrabbel interessieren mich nicht. Ich schalte irgendwann ab, genau wie bei ungewollten und aufdringlichen Werbeanrufen.

Die beste Ehefrau der Welt verfolgt meinen inneren Zwist amüsiert und kopfschüttelnd. Sie versteht mich, ist aber gleichzeitig auch in Sorge, ob ich in der Lage bin, einen Ausdauerlauf über längere Zeit durchzustehen. Letztlich vertraut sie mir und meiner Vernunft, nicht über meine Verhältnisse zu laufen.

Ich.entscheide.mich.also.für.diese.Veranstaltung.Ich.werde.teilnehmen.Punktum.

Christian ist es gelungen, in diesem Jahr auch die Deutschen Meisterschaften (DM) im 6-h-Lauf durchzuführen. Jeder nimmt teil, unabhängig von einer Vereinszugehörigkeit. Da kommst Du mit einer kleinen Runde in einer Kaserne nicht weit, die wäre viel zu unübersichtlich bei einer größeren Läuferschar. Also laufen wir um eine Kaserne. Christian bleibt sich seiner eigenen Regel treu: Laufen auf militärischem Gelände. Und die wird auch bei diesem Projekt, auf dem Standortübungsplatz Handorf-Ost zu laufen, eingehalten.

Für mich bedeutet die Teilnahme an der DM ein Höhepunkt meiner Laufkarriere. Egal, wie weit ich komme und egal, wie lang meine Pausen sind, einige Runden traue ich mir bei meinem jetzigen Trainingsstand zu. Die Anmeldung ist rasch erledigt, und nach einiger Zeit kann ich sogar meine (wieder) laufende Tochter Anke zum Mitmachen animieren. Sie ist nach langer Laufabstinenz zurück in der Szene und trainiert sehr eifrig und ambitioniert. Lauffreund Uwe, den ich allerdings nur noch selten sehe, ist eh gemeldet und mit Edith und Manfred kommen zwei weitere Angehörige unseres Lauftreffs hinzu, eine gute Truppe.

Nach meiner Anmeldung versuche ich, den wöchentlichen Trainingsumfang zu erhöhen und entwickele einen für mich eigenen Rhythmus. Di, Fr und So werden zu Lauftagen umfunktioniert. Das klappt ganz gut, in der Spitze laufe ich um die 40 Wochenkilometer. Ansonsten setze ich mich nicht unter Druck, das habe ich auch nicht mehr nötig. Ich laufe alterskonform im 7:30er – 7:45er Schnitt, je nach körperlicher und seelischer Verfassung. Zusätzlich gönne ich mir einige Physioanwendungen bei Max, dem Kneter meines Vertrauens. Er schafft es immer wieder, allein durch die Kraft seiner Hände bzw. Finger mein Wohlbefinden zu steigern. Ihm gebührt ein besonderer Dank.

Von Zeit zu Zeit betrachte ich die Meldeliste und bin sehr erstaunt über die rasche und stetige Zunahme der Anmeldezahlen. Klar, bei einer DM mitzulaufen ist schon etwas Besonderes. Das wollen sich viele aktive Langstreckler nicht entgehen lassen. Mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich die Namen der Freunde lese, die ich wiedersehen werde. Hoffentlich sehe ich sie wirklich in diesem riesigen Läuferfeld. Das wird jedes Mal ein großes Hallo geben.

Kurz vor der 1000er Grenze muss Christian die Anmeldung stoppen. Es ist jetzt schon schwierig, die „normale“ Organisation zu stemmen, geschweige denn den strengen Regeln der DUV gerecht zu werden. Ich wundere mich sowieso, wie er die Arbeit neben seiner Hauptbeschäftigung bei der Bundeswehr noch schaffen kann.

Je näher der 11. März rückt, desto kribbeliger werde ich. Wie in alten Zeiten, als ich die langen Distanzen ständig lief, fühle ich mich jetzt. Wir wollen zu fünft eine Fahrgemeinschaft bilden, mit Anke, die sich als Fahrerin zur Verfügung stellt. Als Besitzerin eines SUV dürfte für 5 Personen genug Platz vorhanden sein. Wir, das sind eben Anke, Uwe und ich auch Hans von den Endorphinjunkies und Arno von den Ruhrpotts. Mit beiden sind wir schon lange Jahre befreundet. Wir werden im Auto schon auf der Fahrt eine lustige Truppe bilden. Die andere Fahrgemeinschaft bilden meine LWT-Freunde Edith und Manfred.

Anke und ich wollen am Vorabend nach Münster fahren und die Startunterlagen für unsere Crew und einige Freunde, die sich zwischenzeitlich noch gemeldet haben, abzuholen. Es ist nicht viel los bei der Startnummernausgabe im „Haus Münsterland“, einer gediegenen Gaststätte unmittelbar am Kasernengelände Handorf. So können wir mit Christian, der dennoch einen leicht gestressten Eindruck macht, einige Worte wechseln. Auch für ein Bild reicht die Zeit. Viele fleißige Hände unterstützen ihn bereits am Vorabend. Er hat alles gut organisiert, so dass die Ausgabe der Startnummern und Erinnerungsshirts super funktioniert und reibungslos abläuft.

Zügig und ohne Stau fahren wir hin und zurück. Anke ist aus verständlichen Gründen ein wenig nervös vor ihrem ersten großen Wettkampf. Für mich gilt es, noch ordentlich und ausgiebig zu trinken, den Rucksack mit Wechselwäsche und Duschutensilien zu befüllen, zur Ablenkung ein wenig fernzusehen und ab in die Heia.

Schlecht schlafen kann ich vor einem Wettkampf immer gut. So auch in dieser Nacht. Bange machen gilt nicht, warum soll ich mir einen Kopf über Distanzen machen. Ich laufe, was ich kann. Basta. Ein ausgiebiges Frühstück an einem herrlichen Vorfrühlingsmorgen, das hat was. Es ist zwar noch kalt, aber die Wetterprognose verspricht Sonne und angenehme Temperaturen. Da bietet sich ein Outfit mit Radlerhose und Vereinsshirt doch an. Um gegen unerwartete Kühle gerüstet zu sein, komplettieren Armlinge meinen Wettkampfdress.

Pünktlich treffen Anke, Hans und Arno bei mir ein und, nachdem wir unterwegs Uwe aufgelesen haben, sausen wir über die A1 von DO nach MS. Weit vor unserer geplanten Ankunftszeit treffen wir in Handorf ein. Die Parkplätze sind schon gut gefüllt, vor allem der Zuweg zum Hauptparkplatz ist schon zu. Naja, wir kommen an, fahren schon mal am Hauptversorgungspunkt vorbei – da muss ja auch die Strecke sein – und Anke parkt auf dem großen Parkplatz. Erste Orientierung und Kontaktaufnahme mit den Freunden, deren Unterlagen ich mitgenommen habe, schließen sich an. Wir gehen gemeinsam mit unserem Gepäck zur Turnhalle zum verabredeten Treffpunkt.

Hier treffen wir schon die ersten guten Bekannten, so auch Joachim, der sich fest vorgenommen hat, eine Runde mit mir in meinem Tempo zu laufen. Ob das klappt? Selbstverständlich ziehen wir beim Betreten der Halle unsere Schuhe aus, um den Bodenbelag zu schonen. Ich bin stolz auf meine Tochter, die sich dieser großen Herausforderung stellt.

Der Weg zur Turnhalle und zum Start führt durch Kasernengelände und ist beidseitig mit hohen Gittern abgesperrt, damit niemand in der Kaserne herumlaufen kann. Wäre nicht abgesperrt, hätte jeder Aktive beim Betreten der Kaserne einzeln überprüft werden müssen. Bei der Menge der Starter erscheint dies nahezu utopisch. Locker, unaufgeregt und entspannt bereiten wir uns auf den Start vor.

Es ist doch ein gehöriges Stück Weg zum Start zurückzulegen, denn neben dem eigentlichen Kurs auf einem DLV-vermessenen Rundkurs von 5085m. müssen wir in der ersten Runde 850 Meter vorgehen, „damit habt ihr nach der 10ten Runde eine Bestlistenfähige 50km Split-Zeit.“ (Zitat aus der Ausschreibung). Ist auch wahr, sind ja DM. Aber diese 850 Meter mit Anke und meinen Freunden, ich kann es kaum fassen, ist eine einzige Wiedersehensfeier. Ich kann, nein darf zahllose Freunde und Bekannte begrüßen und umarmen. Wir Läufer sind doch eine große Familie, deren handelnde Personen sich untereinander prächtig verstehen und mögen. Konkurrenzneid oder -druck gibt es nicht. Jeder läuft so, wie er will oder kann und dies wird von den anderen Läuferinnen und Läufern respektiert und anerkannt. Gerade in meinem Alter weiß ich dieses Verhalten sehr zu schätzen.

Besonders freue ich mich über das Treffen mit meinem Alterskumpel HaWe, den ich immer wieder bei unterschiedlichen Anlässen getroffen haben. Leider sind diese selten geworden, dafür aber jedes Mal umso herzlicher. Helmut erlaubt mir dankenswerterweise, einige seiner Bilder in dieser Geschichte zu verwenden.

Viel Zeit zum Quasseln bleibt nicht, denn pünktlich um 10 Uhr dürfen wir loslaufen. Wie gesagt, die erste Runde ist um 850 Meter verkürzt, deshalb stimmt die Kilometrierung am Wegesrand erst ab der zweiten Runde. Ich sortiere mich in das hintere Drittel ein, meine Freunde sind über das Starterfeld verstreut. Edith ist zu Beginn bei mir, wir versuchen, unser Lauftempo, das auch unsere Wohlfühlgeschwindigkeit sein soll, zu finden. Mein Blick geht zunächst immer wieder zu meiner Garmin 310 GPS-High-Tec-Uhr, die selbstverständlich bis zum Anschlag aufgeladen ist. Pulskontrolle ist das Zauberwort. Mein Puls darf nicht zu hoch werden.

Alles bleibt im grünen Bereich. Die ersten Kilometer dienen der Orientierung: Wie ist das Gelände beschaffen? Wie ist der Untergrund? Sind Schotter- oder Schlammstellen dabei? Wo ist der – neben dem Hauptversorgungspunkt am Ziel und Rundenbeginn – zweite Versorgungspunkt (VP2), der für uns mit frisches Wasser bereithält? Und wie ist er weiter bestückt? Ich kenne Christian und weiß, dass er für exzellente und ausreichende Läufernahrung sorgt.

Kein Wölkchen trübt den Himmel, die Sonne strahlt über uns, nach dem Motto, wenn Ihr euch freut, freue ich mich auch. Wir laufen eine von Bäumen gesäumte Panzerstraße hinunter, die nach einiger Zeit von Grasflächen rechts und links umgeben ist. Ein Wechselspiel, auch der Temperaturen. Nach knapp zwei Kilometern der VP2, den ich allerdings jetzt noch nicht beachte. Ich habe vor dem Start getrunken, der Speicher ist noch gefüllt. Neben mir läuft eine junge Dame aus Duisburg mit einem Luftballon am Rücken. Auf meine Frage nach dem doch ungewöhnlichen Accessoire bei einem Ultra erklärt sie mir, dass sie mit einigen anderen jungen Frauen den Junggesellinnen Abschied einer Freundin feiert. Und sie beabsichtigen, mindestens einen Halbmarathon zu laufen. Alle Achtung, laufen statt exzessiv feiern, das hat was. Da bin ich bei ihr.

So vergeht die Zeit rasch, und ich nähere mich dem Ende der ersten, verkürzten Runde. Die große Zentraluhr zeigt die noch mögliche Laufzeit an. Die ersten 4,235 Kilometer habe ich hinter mir, jetzt laufe ich die großen Runden von 5,085 KM. Die Sonne gibt alles, deshalb ist ab sofort ausgiebiges Trinken an den beiden VP angesagt. Den Teil der Strecke, den wir anfangs zum Start gegangen sind, laufen wir nun. Auch hier immer wieder das Wechselspiel zwischen Baumbestand und Wiesenflächen rechts und links der Strecke.

Ach so, ich vergaß zu erwähnen, dass ausgerechnet am Start eine mächtige Pfütze den Weg ausfüllt. Nun sind meine Tage bei der Bundeswehr mit Ausbildung im Gelände lange vorbei. Deshalb nehme ich mir die Freiheit, um neben der Wasserfläche zu laufen. Da ist zwar Gras, aber wenigstens trocken. Mir würde doch auch eh keiner abnehmen, bei diesem Lauf nasse Füße bekommen zu haben. Ich laufe mit Edith. Sie ist genau wie ich auch lange Zeit nicht mehr lange Strecken gelaufen. Wir haben uns lange nicht gesehen und reden von früher, heute und morgen. Es ist schön, mit ihr zu reden, es ist sehr kurzweilig. Anke und Uwe überholen uns. Nein, sie sind nicht die ganze Zeit hinter uns gewesen, sie überrunden uns. Es macht Spaß zu sehen, wie locker, flockig meine Tochter an uns vorbeifliegt. Uwe hat sie mit seinem Tempo infiziert. Und das ist gut so.

Einige Körner habe ich noch in meinem Köcher, ich laufe in einem niedrigeren Wohlfühltempo als zu Beginn. Darf ich auch nach immerhin 15 Kilometern. So weit bin ich schon mal im Training gelaufen, aber heute bin ich anders getaktet, ich bin im Wettkampfmodus, ich habe Spaß und Lust am Laufen ohne Ende. Das beflügelt mich und läßt meine physischen Baustellen vergessen.

Uwe und Anke sind weit, weit voraus. Ich bin mal gespannt, wie lange Anke mit Uwe Tempo laufen kann. Von der Physiognomie und den äußeren Bedingungen her könnte sie es heute richtig krachen lassen. Sie hat genug Überblick, um nicht zu überpacen. Uwe läuft wie ein Uhrwerk, die Trink- und Esspausen minimiert er gekonnt, kostet alles nur Zeit. Ich hingegen genieße den Aufenthalt an den VP’s, esse und trinke und freue mich, dass Tatjana mich so hervorragend versorgt. Sie hält mich auch auf dem Laufenden, was Anke betrifft. Wie weit sie vor mir ist, wie es ihr geht usw. Ich habe den Eindruck, zwischen beiden hat sich eine spontane Freundschaft entwickelt.

Das Läuferfeld hat sich inzwischen weit auseinandergezogen. Neben Einzelkämpfern wie mich sehe ich auch Gruppen und Grüppchen, die sich bewusst oder zufällig gefunden haben. In einer Gruppe zu laufen ist nämlich einfacher als allein, du fühlst das Tempo besser, lenkst Dich ab und hast obendrein mehr Spaß.

Frank, er und seine Kamera laufen, holt mich ein. Ich gebe einen kleinen Kommentar zu meinem Vorhaben, die 30er Marke zu erreichen. Derzeit habe ich gut 23 Kilometer auf dem Tacho. Kaum ist er vor mir verschwunden, fällt mir ein, 30 Kilometer zu laufen geht nicht. Die Streckeneinteilung gibt entweder 29,660 oder 34,745 Kilometer her. Puh, was ist zu tun? Mal schauen, was sich für mich ergibt. Zunächst will ich diese Runde erfolgreich hinter mich bringen.

HaWe, den ich einige Zeit nicht mehr gesehen habe, läuft auf. Zusammen sind wir in diesem Jahr 140 Jahre alt. Das muss erst noch getoppt werden. Wir halten diesen Augenblick zwar nicht für die Ewigkeit aber für die Dauer des Laufes fest. Inzwischen laufen Hans und Manfred an mir vorbei und Uwe signalisiert, dass Anke wohl das Rennen beendet hat. Schade denke ich, sie ist gut dabei, so zumindest mein Eindruck, als ich sie zuletzt sah. Edith befindet sich wenige Meter vor mir. Sie kämpft, das kann ich erkennen. Gemeinsam nehmen wir einige hundert Meter gehend und laufend bis zum VP1 unter unsere Laufwerkzeuge. Aufhören, ja oder nein, den Lauf abbrechen? Aber bis zur (fast) 30er Marke muss ich noch eine Runde anhängen.

„Das gibt’s doch nicht. Ich freue mich riesig, Dich mal wieder zu sehen“, ruft eine energische Frauenstimme hinter mir. Ich erkenne sie sofort. Es ist Daniela, mit der ich schon viele Schlachten, um mal militärisch zu bleiben, läuferisch geschlagen habe. Die Freude ist auch meinerseits groß. Wir umarmen uns herzlich, tauschen kurz einige Bemerkungen aus, denn Zeit haben wir nicht.

Am VP1 wieder Wasser von der wie immer gut gelaunten Tatjana annehmen. Cola, Kuchen und Salzlakritz ergänzen die Stärkung. Aber Tatjana ist ja nicht allein am VP, viele, viele Helfer hat Christian im Einsatz. Und alle, ausnahmslos alle sind sehr freundlich und nett zu uns, bewirten uns aufs Feinste. Deshalb ist hier ein dickes Lob und ein herzliches Dankeschön angebracht.

Tja, noch eine Runde. Ich verliere Edith aus den Augen und beginne die für mich letzte Runde. Mein Schritt ist doch nicht mehr so geschmeidig wie noch zu Beginn, ich merke, ich schlurfe über den Asphalt, lege immer wieder Gehpausen ein, ignoriere die Signale der Knie. Kurzfristig überlege ich, die beste Ehefrau der Welt zu Hause zu informieren, dass ich jetzt schon so weit gelaufen bin wie seit 2 Jahren nicht mehr. Aber ich warte lieber, bis ich auch die nächste Runde hinter mir habe. Dann kann sie sich noch mehr freuen.

Ich laufe meine letzte Runde. Wieder am Start vorbei, die Pfütze trocknet allmählich aus, die Sonne wärmt, immer noch prächtiges Laufwetter. Horst läuft zu mir auf, er will die 50er Marke knacken. Meine Wünsche begleiten ihn. Und wie in meinen Gedanken versunken vor mich hin trabe und gehe, gehe und trabe, spricht mich ein Läufer an. Jens, so heißt er, kommt aus der Nähe von Kassel. Wir verstehen uns auf Anhieb, haben die gleiche Wellenlänge. Seine Tochter hilft beim VP, meine Tochter befindet sich (hoffentlich) noch auf der Strecke. Wir bleiben in dem nun gewohnten Rhythmus zusammen, bis Joachim, der mit mir eine Runde laufen will, uns trifft. Mit der Runde wird das ja nichts mehr, aber für einige hundert Meter macht er sein Versprechen wahr.

Ich genieße den Kurs, atme die frische Frühlingsluft ein, trinke ausgiebig am VP2 und freue mich auf die letzten 2,5 Kilometer. Am Ziel, meinem heutigen Ziel, habe ich 29,660 Kilometer auf der Uhr, mehr ist nicht drin. Unmittelbar nach meinem Zieleinlauf wieder Speisen und Getränke von der sehr aufmerksamen und immer noch gut aufgelegten Tatjana und den übrigen Helfern.

Ich drücke meine Uhr ab und melde mich sofort bei der besten Ehefrau der Welt. Aber nur ganz kurz, denn plötzlich sehe ich meine Tochter aufgeregt winken und auf die Massagepritschen deuten. „Du kommst sofort dran, ich bin gerade fertig, die Waden sind wieder ok, ich laufe weiter“, sprudelt es aus ihr heraus. Ehe ich mich versehe, liege ich auch schon, und zwei junge Frauen massieren meine harten Waden und Oberschenkel.  Kurz durchzuckt mich der Gedanke, auch wieder auf die Strecke zu gehen, denn Zeit genug für mindestens eine Runde habe ich noch. Aber ich lasse es gut sein, zumal sich in der Kniegegend ein leichtes Zwicken bemerkbar macht. Dann der längere Anruf zu Hause.

Leicht humpelnd mache ich mich auf den langen Weg zur Turnhalle, zu den heißen Duschen. Erfrischt lasse ich mich in der Turnhalle noch einmal massieren, und zwar von den gleichen Frauen wie im Zielbereich. Sie haben ihren Einsatzort verlegt. Tja, und dann will ich wissen, wie es Anke ergeht, also wieder zurück zur Strecke. Edith kommt mir entgegen, sie hat noch eine Runde mehr als ich zurückgelegt. Prima, klasse gelaufen. Tatjana berichte mir, sie ist von einem vorbeilaufenden Teilnehmer böse angerempelt und gestoßen worden. Entschuldigung Fehlanzeige. Ich finde dieses Verhalten unerhört und ist durch nichts gerechtfertigt.

Nach einiger Zeit sind sechs Stunden vorbei, das Rennen wird beendet. Zu Beginn der letzten Runde erhält jeder noch auf der Strecke befindliche Aktive einen mit Sand gefüllten und mit seiner Startnummer versehenen Luftballon. Diesen läßt er genau an der Stelle, an der sich befindet fallen. So werden neben der Anzahl der Runden die Restmeter gemessen. Es ist schon merkwürdig zu sehen, wie Personen, die sich bis dahin laufend bewegt haben, zu schleichenden Fußgängern mutieren. Manfred, den ich nur kurz während der sechs Stunden sah, hat die 50 Kilometer, ich glaube, zum ersten Mal in seinem Leben, geschafft.

Aber wo ist meine Tochter, wo ist Anke?  Weit und breit ist sie nicht zu sehen. Aber sie sieht mich. „Mit Hans laufe ich nie wieder. Der hat mich getrieben, hat mich animiert, immer weiter zu laufen. Ne, mit dem nicht mehr“, so die Tochter in der ersten Emotionsphase. Hans lächelt nur. Aber nach wenigen Minuten ein Sinneswandel, wie ich ihn nur von Anke kenne. Ist ja nicht so gemeint, sie ist voller Endorphine, hoffentlich schwappt nichts über. 47 Kilometer ist sie gelaufen, so weit wie noch nie. Ich kann meine Stolz nicht verhehlen.

Uwe kratzt an der 60 KM-Marke, freut sich auch über seine Leistung. Manfred sowieso, und auch Arno, der vor einer Woche noch einen Marathon in Bergkamen lief, ist mit sich zufrieden. Die Teilnahme an der Siegerehrung verkneifen wir uns, wir wollen nach Hause.

Bleibt nachzutragen, dass einige der Restmetersäckchen abhandenkommen, vielleicht den Partykeller von Souvenierjägern zieren. Diese haben aber den betroffenen Läufern, so auch Anke und Hans, einen Bärendienst erwiesen. Denn in der Endabrechnung fehlen nun diese Meter, die eine noch weiter gelaufene Strecke dokumentiert und damit eine bessere Platzierung ermöglicht hätten. Anke ist aber zufrieden und bereitet sich auf neue Lauferlebnisse vor. Und dass ich als Vater stolz bin, ist doch klar, oder?

Mein besonderer Dank gilt Christian, der wieder einmal eine exzellente und herausragende Veranstaltung geboten hat, sowie seinen zahlreichen Helfern, die uns das Laufen so angenehm und erfrischend gemacht haben.

 

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